Morrissey: Liebling der Götter


Hosianna, hier naht der neue Pop-Messias. Meint jedenfalls Steven Patrick Morrissey. Und erstaunlich viele Briten auch. Mit hausgemachter Hippie- Philosophie hat der Chef- Moralist der Gruppe The Smiths die Blumenkinder der 80er Jahre um sich geschart. Manfred Evert begab sich auf den Olymp und mußte feststellen, daß dort oben nicht nur die Luft dünn ist.

Der Unterschied zwischen Liverpool und London, verkündete im britischen Parlament der konservative Abgeordnete Sir Peter Hordern, sei ungefähr so wie der zwischen Ost- und West-Berlin.

Sollte Sir Peter recht haben, dann ist allerdings Simonswood, zehn Meilen von der Hafenstadt am Mersey entfernt, das Äquivalent zu Sibirien: in ödeste Flachlandschaft gesetzte Wohnsiedlungen und monströse Fabrikanlagen, die den kombinierten Charme von Geisterstädten und Gefangenenlagern ausstrahlen.

In dieser spätindustriellen Idylle haben sich, für drei Wochen, The Smiths eingenistet, um ihr zweites Album aufzunehmen – mit dem vegetarischen Slogan: Meat Is Murder. Warum ausgerechnet hier?

Morissey, ohne den sonst obligatorischen Blumenstrauß, aber mit Hörgerät im Ohr, gibt zu, daß ihn, wie so vieles im Leben, auch diese Umgebung „schrecklich deprimiert“. Aber: „Wir wollten, nachdem wir unsere letzten vier Singles in London produzierten, wieder in einer nordenglischen Atmosphäre arbeiten. Außerdem ist es, sobald wir einmal im Studio sind, unwichtig, wie es draußen ausschaut. Und wir arbeiten schnell, sehr schnell. Für dieses Album brauchen wir nicht länger als drei Wochen. Wir gehören nicht zu den Bands, die monatelang im Studio herumhängen. Das wäre entsetzlich langweilig.“

Soweit – und Morrissey ist der erste, der einen darauf hinweist – lief alles schnell für The Smiths. Die aus Manchester stammende Band (außer Morrissey sind noch Gitarrist Johnny Marr, Schlagzeuger Mike Joyce und Bassist Andy Rourke mit von der Partie) war noch nicht mal ein halbes Jahr alt, als sie mit der Single „This Charming Man“ den ersten in einer ganzen Reihe von Hits hatte. Das Debütalbum wurde in England platinveredelt, ausverkaufte Tourneen besiegelten den Erfolg. Daß das Gitarren-Revival den Nährboden lieferte, wird zwar kaum jemand bestreiten wollen, doch letztlich war und ist es das exzentrische Blumenkind Morrissey, das die Smiths in die Schlagzeilen hievte.

Morrissey: „Wir wollten den Erfolg, also mußte er passieren. Alles andere hätte uns überrascht. Ich glaube, daß wir ein Zeichen gesetzt haben. Noch nie war eine Band auf einem unabhängigen Label (in diesem Falle Rough Trade) so erfolgreich, so populär wie wir. Und wir haben das ohne Geld geschafft, ohne Videos, ohne einen Pfennig Promotion. Das ist historisch. Keine andere Band hat jemals einen Durchbruch auf nationaler Ebene gehabt ohne massive Werbung.

Wir sind die erste Band auf einem unabhängigen Label, der man angeboten hat, in Wembley aufzutreten. Das ist Musikgeschichte. Das ist noch nie dagewesen, und wird auch nie wieder passieren. Natürlich haben wir das Angebot abgelehnt. Das roch uns zu sehr nach Rock’n’Roll, dennoch …“

Mal davon abgesehen, daß Selbstüberschätzung und Größenwahn zu den häufigsten branchenüblichen Krankheiten zählen, hat Steven Patrick Morrissey eine Menge zu kompensieren. Seine, nach eigenen Angaben „traurige“ Kindheit und noch traurigere Jugend erlebte er in Manchesters Whalley Range, einem heruntergekommenen Arbeiterviertel.

Morrissey geizt mit Angaben über diese Zeit. Es sei „deprimierend gewesen, sehr uninteressant, sehr ruhig“. Sein Elternhaus war „eine Katastrophe“; Freundschaften wollte oder konnte er nicht schließen. Die ersetzte er durch Bücher, Musik und Film und durch eine Phantasiewelt, in der, lange bevor es zur Realität wurde, Steven Patrick Morrissey der Star war.

„Ich begriff schon sehr früh, daß ich ein kreativer, künstlerischer Mensch war. Ich wußte, daß ich singen wollte. Schreiben war eine natürliche Folge davon, denn selbstverständlich wollte ich meine eigenen Lieder singen. Diesen Wunsch hegte und pflegte ich so lange, bis er schließlich keimte.

Mein Haupteinfluß war, vermute ich, populäre Musik. Schon im Alter von sechs Jahren begann ich, Platten zu kaufen. Ich war absolut hysterisch, was Platten anbelangt. Das fand man sehr merkwürdig, denn ich hatte nicht einfach ein unschuldiges Interesse an Musik. Es war eine Leidenschaft und das ist, wenn du acht Jahre alt bist, ganz schön dramatisch.“

Morisseys zweite Leidenschaft waren Bücher. Er las alles, was ihm in die Finger geriet und fand seine Lieblingsautoren in den drei sehr unterschiedlichen Iren Sean O‘ Casey, Brendan Behan und Oscar Wilde. Solche Lektüre nährte auch eigene literarische Ambitionen.

„Moderne Belletristik ist so unglaublich langweilig. Alles ist nach dem Schema amerikanischer Bestseller gestrickt.

Ich selbst schreibe Verse. Poesie möchte ich es nicht nennen. Das klänge zu sehr nach Lord Byron. Außerdem war ich an Poesie nie schrecklich interessiert … keine Gedichte, ich schreibe Verse, und Theaterstücke, haufenweise Theaterstücke. Die ich irgendwann, aber in ferner Zukunft, auch auf die Bühne bringen werde. „

Mit Morrissey in der Hauptrolle?

„Ich mag nicht leugnen, daß ich ein gewisses Interesse für die Schauspielerei empfinde. Allerdings würde ich es verabscheuen, lediglich als ein weiterer Karriere-Reiter gesehen zu werden, als ein weiterer Prominenter, der es nun auch mal mit der Schauspielerei probiert.

Alle Leute, etwa aus der Musikszene, die das versucht haben, sind kläglich gescheitert. Zum Beispiel Bowie: In allen Filmen, die er bisher gemacht hat, spielt er sich selbst, niemals spielt er eine Rolle. Das ist unglaublich einfach; ein vierjähriges Kind könnte das tun. Für mich ist das keine Schauspielerei. Das ist keine Herausforderung – was im Grunde genommen traurig ist.“

Zu Nebenbeschäftigungen hätte Morrissey ohnehin keine Zeit, die Smiths sind ein Full-Time-Job, 24 Stunden am Tag, wie er betont, die Erfüllung seines Jugendtraums. Gleichwohl hat der Erfolg, wie sollte es anders sein, seine Schattenseiten.

Wenn du erfolgreich bist, dann bist du 24 Stunden am Tag mit dir selbst konfrontiert. Das ist, als ob du dich ständig im Spiegel betrachtest. Du hörst dir deine eigenen Schallplatten an, du machst Interviews, du trittst im Fernsehen auf, du tust dies, du tust jenes, und es ist, als ob du permanent in deine eigene Seele schaust.

Das ist etwas,. was normale Leute niemals tun. Solch eine Situation, wo du ständig kommunizieren, ja praktisch Reden halten mußt und zudem noch kreative Arbeit zu leisten hast, ist faszinierend, aber es drückt dir auch manchmal ganz schön auf’s Gehirn.“

Aber Morissey wäre nicht Morrissey, wenn er nicht Gefallen an der Situation fände: „Ich akzeptiere es. Ich möchte es nicht anders. Wer möchte schon anonym sein? Wer möchte schon ein Niemand sein? Ich mit Sicherheit nicht.“

Die Bezeichnung Rockstar lehnt er „selbstverständlich“ für sich ab. Die Tatsache, daß er nolens volens – einer ist und für tausende von Menschen ein Idol darstellt, erfüllt ihn mit gemischten Gefühlen.

„Ich empfinde eine immense Dankbarkeit, aber hauptsächlich aus einem Grund: Wenn diese Menschen, diese Fans, nicht zu uns aufblicken würden, dann würden sie vermutlich irgendeine andere Popband anhimmeln. Und das wäre schrecklich. Ich finde, es muß irgend jemanden in der Musikszene geben, der intelligent ist und sein Gehirn gebraucht. Doch da gibt es niemanden außer uns natürlich. Die Verantwortung, an der man trägt, ist natürlich gewaltig.“

Morrissey, von Hardcore-Fans, einem Teil der britischen Musikpresse und nicht zuletzt sich selbst zum Rock-Messias der 80er Jahre stilisiert, glaubt eine Mission zu haben. Er nimmt seine Arbeit ernst und verlangt, ernstgenommen zu werden.

„Journalisten“, so klagt er, „versuchen immer wieder, mich bloßzustellen und zu beweisen, daß ich letztlich nur eine ganz durchschnittliche Person bin.

Dabei ist Rockmusik das einzige Medium, mit dem man heutzutage ernsthafte Botschaften übermitteln kann. Die einzige Sache, die uns retten kann, ist populäre Musik.

Unsere Musik erweitert den Horizont von Menschen, macht ihnen Dinge bewußt. Die Reaktion von Leuten, die uns mögen, ist sehr stark, sehr emotional und sehr hysterisch. Ich bekomme massenweise Briefe, und die meisten Leute schreiben, daß ihnen unsere Platten im wahrsten Sinne des Wortes das Leben gerettet haben. Ich glaube nicht, daß viele andere Musiker ein solches Echo haben.“

Seine Eloquenz verläßt Morrissey, wenn man ihn auffordert, über die Bedeutung seiner eigenen Songs, z.B. „Meat Is Murder“, zu reden. „Das ist der stärkste Song, den ich bisher geschrieben habe, und mehr weiß ich darüber eigentlich nicht zu sagen.“

Aber er findet seine Beredsamkeit wieder angesichts der Wohnwüsten in der Nachbarschaft des Studios. So zu leben, das sei die Hölle, sagt er mit der Überzeugung eines gerade noch Davongekommenen, als einer, der in solcher „Hölle“ aufwuchs.

„Die Menschen, die dort leben, haben keine Chance. Die bleiben in diesem Teufelskreis aus Arbeitslosigkeit, schlechten Jobs und mieser Ausbildung. Die meisten kommen da nie raus. Ja, ich bin froh, daß ich es geschafft habe. Aber diese Zustände täglich vor Augen zu haben, zu sehen, wie dieses Land vor die Hunde geht, wie die Gewalttätigkeit immer mehr zunimmt das macht mich krank. Diese ganze Gesellschaft ist krank. Die Menschen sind abgestumpft, lethargisch. Nichts ändert sich.“

Also Hoffnungs- und Aussichtslosigkeit?

„Nein, irgendwann wird sich die Gesellschaft ändern. Ich weiß noch nicht wie. Aber andere Leute müssen an die Spitze.“

Wer zum Beispiel? Ich hätte mir die Frage sparen können…

„Warum nicht ich?“ sagt Morrissey. „Es gibt keinen Grund, warum ich nicht eines Tages Premierminister sein sollte.“