Müsli-Maahn


"Local boy makes good", würde man in Amerika sagen. Frei übersetzt: Der nette Junge aus der Nachbarschaft zieht das große Los. Ähnlich liegt der Fall bei Wolf Maahn: Der ehrlichen Haut aus Köln-Nippes hätte man den Durchbruch zwar immer gegönnt, aber nie so recht zugetraut bis er sich plötzlich neben Paul Young, Al Jarreau und Prince in der "Rocknacht "wiederfand. Andreas Hub war dabei, als Maahn und seinen Deserteuren die große Stunde schlug.

Als ich erfuhr, daß wir hier spielen würden, ist mir zehn Sekunden lang das Herz stehengeblieben“, hört man Wolf Maahn hinterher aus Millionen europäischer Fernsehgeräte sagen. Und als Rockpalast-Moderator Ken Janz bei der Übersetzung ins Englische einen Zehn-Minuten-Herzstillstand attestiert, bricht die ganze Band in schallendes Gelächter aus – nach Stunden, Tagen der Nervosität und des Wartens löst sich endlich die Spannung.

Baßmann Werner Kopal hatte schon am Mittwoch bei der Probe keine Geduld mehr: „Ich will j etzt spielen“, sagt er und trommelt nervös mit den Fingern auf die Tischplatte. Der Countdown hat zwar bereits begonnen, aber bis zum Start sind noch mehr als 72 Stunden zu überstehen. 72 Stunden, 4326 Minuten, 259200 Sekunden sooo lange noch.

Dabei ist die Wartezeit vom Probentag bis zur Rocknacht rein quantitativ unbedeutend gegenüber dem, was vorausging. Wolf Maahn blendet zurück: „Als wir im letzten Sommer als Opener für Dylan und Santana spielten, hörten wir von Plänen, dieses komplette Festivalprogramm für eine Rocknacht einzusetzen. Das scheiterte an den Amerikanern, aber plötzlich rief (Rockpalast-Regisseur) Christian Wagner an und sagte: ,Zu 90 Prozent seid ihr in der nächsten Rocknacht‘. Zuerst war die Freude riesengroß, aber dann verging eine Ewigkeit, bis aus 90 Prozent 100 wurden.“

Es war eine kleine Sensation: Wolf Maahn und die Deserteure als erste deutsche Band in der ARD-Rocknacht – nachdem BAP bereits 1982 beim Rockpalast-Festival auf der Loreley internationale Luft schnuppern konnten. Aber die Essener Rocknacht, das ist zumindest vom Symbolwert noch eine Nummer größer, der „beste Gig in Europa“ eben, wie Maahn es sagt.

Daß es darum in der letzten Zeit nicht gerade zum besten stand, ist kein Geheimnis, aber als ich (Redakteur) Peter Rüchel frage, ob er sich denn jetzt eins ins Fäustchen lache, weil die 15. Rocknacht dem lädierten Ruf zu neuem Glanz verhelfen werde, strahlt er von einem Ohr bis zum anderen: „Natürlich freuen wir uns.“

Und wie sind die Deserteure zwischen Young, Jarreau und Prince gelandet? Waren andere Namen im Gespräch? Grönemeyer? Lindenberg?

„Ja, wir haben lange überlegt Lindenberg wäre, abgesehen davon, daß er zur Zeit keine Show hat, durch den gewaltigen Kulissenaufwand für ein Festivalprogramm unrealistisch gewesen. Und Grönemeyer wäre einfach eine zu offensichtliche Wahl gewesen. Wir haben ja immer versucht, unkonventionelle Wege zu gehen, und ich glaube, Wolf Maahn und die Deserteure sind im Moment d i e deutsche Liveband, die auch für die Zuschauer im Ausland am meisten zu bieten hat.“

Eine Eurovisionsbeteiligung von 16 Anstalten aus 15 Ländern-das heißt Rekord, und die Vorverkaufszahlen lassen schon am Probentag eine ausverkaufte Halle in denkbare Nähe rücken.

In einer Pause sagt Sängerin Jane Palmer mit hörbarem Seufzer: „Wir haben zwar schon auf einigen Riesen-Festivals gespielt, aber wenn’s hier schiefgeht, können wir uns zum ersten Mal nicht damit rausreden, daß wir ,nur‘ Vorgruppe sind. Diesmal geht’s ums Ganze – die Leute kommen nicht zuletzt wegen uns, und wir stehen gleichrangig neben Paul Young und AI Jarreau auf der Bühne.“

Aber schon die Arbeit bei den Kameraproben zeigt, daß Peter Rücheis Erwartungen keineswegs zu hoch gesteckt sind: Mit sichtlichem Spaß und großer Sicherheit spielt die Band zweimal ihr Programm vor der gähnend leeren Halle so engagiert, als ständen ihnen schon 9000 Leute gegenüber.

Am Vortag hatten sie noch einen Aufwärm-Gig in Gerolstein absolviert, um sich wieder auf ihren Schlagzeuger Jürgen Zöller einzustellen. Der war auf der Tournee nicht dabei, weil er die neue LP der Rodgau Monotones produzierte. Als sie Mittwochnacht mit den Proben fertig sind, können sie zufrieden sein: Licht und Sound in der Halle stimmen.

Wolf Maahn und Mixer Horst Hartmann sitzen noch eine Weile im Ü-Wagen, um sich zu vergewissern, wie’s im Radio und Fernsehen klingen wird. Alles bestens. „Also, bis Samstag dann“, sagen sie und steigen ins Auto. Noch dreimal schlafen…

Für uns ein bißchen Zeit, in den Akten zu blättern. Nachdem Maahn 1966 im zarten Alter von 11 Jahren in München die Beatles gesehen hatte, gab es nur noch wenige Abweichungen auf dem rechten Pfad der Tugend, ein Rockstar zu werden. I

Rückschläge und Enttäuschungen schon eher. So erwies sich die Arbeit mit der Foodband – trotz des Namens als brotlose Kunst. Damals waren auch schon Werner Kopal, Gitarren-Deserteur Axel Heilhecker und der heutige BAP-Drummer Jan Dix dabei, aber nach Querelen mit der Plattenfirma und der Erkenntnis, daß englischsprachige Rockmusik in der NDW-Ära niemanden interessierte, kam das Aus.

1982 entstand unter der künstlerischen und namentlichen Ägide von Maahn das Album DESERTEURE – und plötzlich war ma(ah)n bei Roxy Music im Vorprogramm, die Geburtsstunde der Deserteure.

„Da mußte ich in zwei Tagen eine Band zusammensteilen, und ich habe da wohl eine glückliche Hand gehabt, denn wir spielen seitdem in unveränderter Besetzung.“

Als da sind: Jane Palmer und Renate Otta (Chorgesang), Axel Heilhecker (Gitarre), Werner Kopal (Baß), Paco Seval (Keyboards), Jürgen Zöller (Schlagzeug).

Als 1984 der LP-Zweitschlag BISSE UND KÜSSE kam, war zwar mancher ob der glatten, überperfekten Produktion enttäuscht, aber die untadelige Live-Präsenz gab dem ständig wachsenden Publikum zur Fahnenflucht keinen Anlaß. Im Gegenteil. Die dritte LP IRGEND-WO IN DEUTSCHLAND sorgte mit Charts-Notierungen, Auftritt in der ZDF-Hitparade und einer ausverkauften Tournee für den Durchbruch des selbsternannten Rock’n’Roll-Rebellen.

„Auch wenn Rockmusik heute immer mehr zum Geschäft verkommt, gibt es ihn für mich den Geist des Rock’n’Roll: das Leben jetzt genießen anstatt es damit zu vergeuden, fragwürdige Werte zu schaffen; die Abgrenzung zum Bürgerlichen, das Aufbegehren gegen alle Viehherden-Mechanismen. Und wenn gerade in einer Schickimicki-Disco ,Fieber‘ läuft, während sie mich nicht reinlassen, weil ich nicht adrett genug angezogen bin, dann ist das gerade ein Grund mehr, weiter den Mund aufzumachen! Während ich früher in erster Linie Wert darauf legte, ein passabler Musiker zu sein, glaube ich, heute mit Recht auf meine Texte ebenfalls stolz sein zu können.“

Zwar hat Maahn im vergangenen Jahr auch ais Produzent (Klaus Lage Band) von sich reden gemacht, aber der eigene Rock ist ihm halt doch näher als die fremde Hose: „Mir ist schon ein Stein vom Herzen gefallen, daß die Leute mich jetzt endlich auch mit dem ernst nehmen, was ich selbst musikalisch mache. Da bin ich halt viel mehr mit dem Herzen dabei. „

Samstagmittag, 14 Uhr. Treffpunkt „Schwarze Lene“ (nix Rote Lola…). Empfang der Stadt Essen im Traditionslokal hoch über dem malerischen Baldeneysee. Vollmundige Worte zu Lachsschnittchen und Kerzenlicht: „Hier scheint zwar nicht die Sonne, aber wir sind sicher, daß Sie heute abend dafür sorgen werden, daß die Sonne aufgeht.“ Der Oberbürgermeister läßt schön grüßen.

Nach alter Sitte überreicht Christian Wagner allen Akteuren große blaue Wimpel, auf denen in silberner Stickerei steht: „Zur Erinnerung an die 15. Rockpalast-Nacht für Wolf Maahn und die Deserteure“.

Während Axel noch seinen Wimpel wie eine Trophäe in den Händen hält, sage ich: „Kannst du dir ja demnächst neben die erste Goldene hängen. „

„Ja“, meint er etwas nachdenklich, „ist schon verrückt. Ist noch gar nicht so lange her, daß ich mit der Jane eine eigene Band (Jane Palmer Band) hatte. Das fing auch ganz vielversprechend an, Platte, Promotion, Tour- und dann hatten wir zum Schluß nicht mal mehr Geld, um die Musiker zu bezahlen. Und jetzt sitzen wir auf einmal hier.“

Der livrierte Kellner schenkt Champagner nach…

Ein paar Tage zuvor übrigens haben sich die beiden, die auch privat gemeinsame Wege gehen, mit Tina Turner getroffen, um ihr Stücke aus eigener Produktion anzubieten; Axel hat bereits für Steve Miller und Klaus Lage komponiert.

Zurück im Hotel, sind es immer noch sieben Stunden bis zero. Jürgen und Paco, der Chilene, fahren in die Halle, wollen noch weiter am Sound tüfteln; Wolf zieht sich zurück und bittet, keine Gespräche durchzustellen. Freundin Angelika ist mit dem gemeinsamen Sohn Maximilian eingetroffen, aber nicht nur das Baby ist ruhebedürftig.

Pünktlich um halb sieben steht der Bus vor der Tür und bringt alle zur Halle. Draußen stehen schon die ersten Rockpalast-Fans im Regen. Durch den Spalt im Vorhang der Garderobe kann man sehen, wie ihre Zahl in Tausender-Schritten langsam anschwillt. Immer, wenn einer der Musiker einen Blick riskiert, hört man solche Sätze „Oh Gott, sind das viele!“ Auf der Friedensdemo in Bonn maß ihr Publikum zwar nach Hunderttausenden, aber dort waren Deserteure anderer Art das eigentliche Thema.

Jemand ruft nach Baldrian. Jane holt das Wermutfläschen raus – Medizin vom Naturarzt, nur tropfen-, nicht gläserweise.

„Das ist gut gegen Nervosität“, verspricht sie. Jürgen ist wieder ins Hotel gefahren, weil er meint, die Wartezeit besser in der Badewanne zu verbringen. Wolf macht sich und den anderen Mut: „Selbst wenn wir heute das schlechteste Konzert der Tour bringen, sind wir immer noch besser als manche Gruppen, die hier gespielt haben. „Im Ernstfall würde das natürlich niemanden trösten. Die Atmosphäre erinnert an den Morgen vor wichtigen Klassenarbeiten, wenn man sich fragt, ob man wirklich genug Vokabeln gepaukt hat – und dann erkennt, daß es jetzt eh zu spät ist.

Die Crew hat den „Ernst“ der Lage erkannt und gibt sich betont feierlich: Alle haben sich in Schale geworfen, Konfirmationsanzüge, weiße Hemden mit Krawatten, knallenge Schlaghosen aus Glam-Rock-Tagen. Wenn man Gitarren-Roadie Uwe laufen sieht, weiß man sofort, an welcher Stelle es ihn kneift – und Kollege Peter wird den Windsor-Knoten erst lockern, nachdem der letzte Ton verklungen ist.

Aber nicht nur in puncto Outfit beweist die Crew Stehvermögen: Das technische Personal von Tasco, der englischen Firma, die für Licht- und Tonanlage verantwortlich ist, hat backstage ein Plakat aufgehängt, auf dem gnadenlos die Roadies der einzelnen Bands nach Sachverstand, Arbeitsleistung, Spenden in Form von Hochprozentigem (Kennwort „Bottles“) und anderen Kriterien bewertet werden. Ein rauher Spaß, aber im Reich der Roadies wird nicht mit Samthandschuhen zugepackt. Und von 70 möglichen Punkten hat die deutsche Crew mit 66 Zählern das beste Ergebnis des Festivals zu verzeichnen.

Daß auch die Band internationales Format besitzt, wird wenige Stunden später selbst Paul Young neidlos anerkennen. Aber soweit ist es immer noch nicht.

Während in der Halle Spruchbänder wie „Anröchte grüßt Wolf Maahn und die Deserteure“ entrollt werden, versucht die Band in der Garderobe zur Ablenkung, „Wetten, daß?“ über den TV-Monitor reinzubekommen, aber der ist nur mit den Kameras in der Halle verbunden. Endlich kommt der Zeitpunkt, an dem auch der sonst ewig freundliche Tourmanager Bobby Sommer (bei dem Namen…), Wahlberliner aus Wien, eine ernste Miene aufsetzt: „Ich bitte alle anderen, jetzt den Raum zu verlassen.“

Die Garderobe wird für die letzten 30 Minuten zur Sperrzone. Dann die bedeutungsschwangere Ansage von Evelyn Seibert: „German Television proudly presents…“ Wolf hinterher; „Als wir da noch ein paar Minuten hinter dem Vorhang

stehen mußten, wurde mir auf einmal ganz anders. “ Und dann: “ Wolf-Maahn und die Deserteure!“ Vieltausendfacher Aufschrei, kein Halten mehr, es geht ab.

Das Publikum steht voll hinter ihnen, auch als sie bei den ersten Nummern noch ein bißchen zu sehr treiben, zu hektisch spielen. Aber dann gewinnen sie an Boden, spielen sich frei. Spätestens als Wolf und Jürgen bei „Rosen im Asphalt“ ein gemeinsames Perkussions-Stahlgewitter ins Publikum schleudern, gehört die Halle ihnen. Peter Rüchel steht hinter dem Vorhang und freut sich.

Die vorher so zäh verrinnende Zeit schrumpft plötzlich auf Sekunden-Format zusammen und schon ist der „Blinde Passagier“ von Bord gegangen: Die Show ist vorbei, aber das Publikum schreit nach mehr. Mit dem „Bimbo-Club“ lassen die Deserteure nochmal die Funken fliegen, aber dann ist endgültig Schluß.

Vor der Garderobe stehen bereits Gäste Spalier. Freunde, Freundinnen, Musiker, der Chef ihrer Plattenfirma. Die Sektkorken knallen, noch einmal kurz zum Interview vor die Fernsehkameras, aber dann ist der Rummel vorbei. Die Euphorie verfliegt schnell, und auf einmal wird man gewahr, daß man zwar auf der ganzen Linie gewonnen hat, daß dieses Ereignis, dem man so lange entgegen gefiebert hat, aber unweigerlich vorbei und nicht wiederholbar ist.

Zwei Tage später telefoniere ich mit Wolf Maahn – und er zieht Bilanz: „Wir können total zufrieden sein mit dem. was wir gebracht haben, und ich glaube, wir haben bewiesen, daß wir absolut mithalten konnten. Unserem Selbstbewußtsein hat das sehr gut getan. Selbstkritisch muß man sagen, daß wir vielleicht nur 80 Prozent unserer optimalen Leistung gebracht haben, aber unter solchen Umständen ist das mehr, als selbst die Rockpalast-Leute von uns erwartet hatten.

Direkt nach dem Gig war ich überglücklich, aber gestern nachmittag hatte ich mal kurz so ein flaues Gefühl, als mir klar wurde, daß ein größerer Auftritt ja eigentlich nicht mehr möglich ist. Und daran muß man sich erst mal gewöhnen, wenn man als Musiker immer nach spektakuläreren Zielen strebt. „

Das ist es wohl auch, was seine Freundin noch in der Rocknacht meinte: „Vorbei? Jetzt geht es doch erst richtig los!“ Der ganz normale Alltag nämlich.