New Order: Glücklich wie Schweinchen


Eine tote Band zeigt es allen. Sie lockt New Wave in die Clubs und die Clubmeute nach Manchester - um schließlich mit allem grandios zu scheitern und später zurückzukehren, als wäre nichts gewesen. Die unglaubliche Geschichte von New Order.

Es ist einer der großen Mythen der Musikgeschichte: So teuer sei das Cover von „Blue Monday“ gewesen, daß man draufzahlen mußte. 50 Pence pro Scheibe sollen es laut Peter Hook gewesen sein, ein ganzes Pfund sogar gemäß Tony Wilson, zwei Pence nach vorsichtigeren Schätzungen. Damit so der Mythos – hätten die Jungs aus Manchester das unglaubliche Kunststück fertig gebracht, die bestverkaufende Maxi-Single aller Zeiten in die ruinöseste Maxi-Single je zu verwandeln. Ganz wie es der gute Ton des nordenglischen Fatalismus verlangt, habe man einem gewaltigen Triumph eine noch gewaltigere Niederlage abgerungen. Nur, der Mythos ist eben doch nur ein Mythos. „Blue Monday“ erwirtschaftete letztlich stattliche schwarze Zahlen – spätestens durch seine zahlreich veröffentlichten Neuauflagen und Neubearbeitungen. Dennoch summiert der von New Order selber schmunzelnd authentisierte Mythos perfekt den Geist einer Gruppe, die vom UK-Musikmagazin Uncut als „die kulturell wichtigste britische Band der letzten 20 Jahre“ bezeichnet wurde.

Auch kein Witz: New Order hätten um ein Haar „The Witchdoctors of Zimbabwe“ geheißen. Auch „Khmer Rouge“ war im Gespräch. Schließlich nannten sich Bernard Sumner, Peter Hook und Stephen Morris vorläufig nach dem Vorbild vieler Bands ohne rettende Idee im letzten Moment: The No-Names, als sie am 29. Juli 1980 im Beach Club in ihrer Heimatstadt zum ersten Mal seit dem Tod von Ian Curtis wieder gemeinsam live auftraten. Dem Publikum muß der Auftritt nur wenige Wochen nach dem Selbstmord der jungen, verzweifelten Ikone des Postpunk wie ein Wunder vorgekommen sein: Mit einem Schlag hatten die drei am 18. Mai 1980 Stimme, Texter, das Gesicht ihrer Band verloren. Trotzdem habe man nicht lange darüber nachdenken müssen, ob eine Fortsetzung der Zusammenarbeit in Frage kommt. „Die Band war unser Leben geworden“, erläuterte Peter Hook dem Journalisten Dave Thompson: „Es machte Spaß. Es schien die natürlichste Sache der Welt zu sein, weiterzumachen. Wir wußten nicht was oder wie – nur daß.“

Schmerzlos war der Neustart nicht – aber er war auch eine Herausforderung unter ganz pragmatischen Gesichtspunkten: Die Band benötigte ein neues Repertoire. „Nach all der Arbeit, die wir gemeinsam in die Lieder gesteckt hatten, war der Schmerz zu groß, sie ohne Ian singen zu müssen“, sagte Hook. Doch Curtis fehlte nicht nur als Freund, es fehlte ein Sänger. Beim Gig im Beach konnte sich keiner der drei zum Gang ans Mikrofon durchringen. Im Lauf der ersten USA-Tournee Ende September 1980 wechselten sich die drei Mitglieder als Sänger ab. Am Ende blieb der Job an Sumner hängen, weil Drummer Morris nicht mit Phil Collins verglichen werden wollte, und Hook mit seinem Baß genug zu tun hatte. Typischerweise machten die drei aus der Not eine Tugend und erhoben den Mangel an gesanglicher Präsenz zum Stilmittel. Mit seinem schüchternen Auftritt stand Sumner im krassen Gegensatz zu den postpunkigen Schreihälsen, die die New Wave bis zur Ankunft der Smiths dominierten. Später wurde der Kontrast zwischen der sanften, fast schwächlichen Stimme und der eisernen Unnachgiebigkeit der Beats ein grundlegendes Spannungselement im Sound der Band.

Noch gewöhnunqsbedürftiger als die Stimme war allerdings der Name, den sich das Trio schließlich zulegte. Namensgeber war Manager Rob Gretton, dem eine Zeitungsschlagzeile im Gedächtnis geblieben war: „The New Order Of Kampuchean Liberation“. Der New Musical Express stellte umgehend die Verbindung zu Hitlers „Neue Ordnung“ her. Und schnell erinnerte man sich auch wieder an die Nazi-Konnotationen von Joy Division und besonders an deren von Bernard Albert entworfene Plattenhülle für die erste EP, an Ideal For Living (1978), mit der Abbildung eines trommelnden Hitlerjugend-Boy. Die Sache ist der Band heute nur noch peinlich. „Ich war als Grafiker tätig“, erklärte Bernard Sumner der Zeitschrift Mojo: „Und deshalb faszinierte es mich, wie man Bilder dazu mißbrauchen kann, Menschen zu manipulieren.“ Seine ironischen Versuche, mit dieser Symbolik selbst zu provozieren, bedauert er heute: „Es war naiv. Stupid.“ Die Band wehrte sich damals gegen die Angriffe von außen mit trotzigem Schweigen. „Es war eine komische Zeit“, sagt Hook. „Wir glaubten ohnehin nicht daran, daß Promotion, Selbst-Promotion eine gute Sache war. Und niemand versuchte, uns diesen Glauben auszureden. ‚Ihr macht tolle Musik‘, sagte Gretton eines Tages, ‚aber wenn ihr den Mund öffnet, kommt nur Stuß raus. Gebt euch dunkel und mysteriös, so könnt ihr nichts kaputt machen.'“

Zu dieser Mysteriösität trug auch Bernard Sumners seltsames Namensspiel bei: Sumner ist sein richtiger Name, doch er firmierte bei Joy Division auch als Bernard Dicken (der Nachname seiner Mutter nach deren Wiederheirat), Albrecht (das klang schon deutsch) und Rubble (sein Spitzname). Sumner, der seinen Vater nie kennenlernte, war bis heute wenig daran gelegen, diese Namensrätsel aufzulösen: Die Sache sei seine Privatangelegenheit.

Im März 1981 erschien die erste New Order-Single. Mit dem Lied „Ceremony“ wollte das Trio einen endgültigen Strich unter die Vergangenheit ziehen. Jetzt stand es in jedem Plattenladen unter „N“ schriftlich: Joy Division sind tot, es lebe New Order! Unterdessen war Gillian Gilbert zur Band gestoßen. Sie war die Freundin von Stephen Morris‘ jüngerer Schwester, kannte die Band seit Jahren – und wurde schließlich zur Lebensgefährtin des Schlagzeugers. Mit ihr an Keyboards und Synthesizer eröffneten sich New Order neue Horizonte, die Tür zum Pop stand weit offen. Das Album-Debüt Movement wirkte dennoch konfus, wie verloren gegangen zwischen Joy Division und New Order. Für Peter Hook ist es das „einzige schlechte Album“ der Band. Er habe damals an Depressionen gelitten, das spüre er noch heute in der Musik. Zudem war Produzent Martin Hannett vor lauter Drogen nahezu kommunikationsunfähig geworden.

So waren New Order erst Ende 1981 in der Lage, die neuen Möglichkeiten tatsächlich zu nutzen. Davon gab es plötzlich viele: Sumner hatte zu seiner eigenen Überraschung eine Vorliebe für die Dance-Clubs von New York und die Disco-Sounds von Giorgio Moroder entwickelt. Dies war der Beginn einer kleinen Revolution. Bis dahin waren Grenzübergänge im Popgeschäft streng kontrolliert worden; zumindest galt den Musikanten des Postpunk und der New Wave Disco im Besonderen und Tanz im Allgemeinen als trivial. Ausnahme machten Eingeweihte nur für den zerebralen Punk-Funk von Pop Group und Gang Of Four.

Im Dezember 1981 folgte das musikalische Outing von New Order – über Umwege: Eine bei Factory-Benelux erschienene Maxi-Single enthielt eine „extended“ Version von „Everything’s Gone Green“, wofür die Pioniere zum ersten Mal einfach „ein paar Drähte zusammengesteckt“ und sich so auf unorthodoxe Weise der neuen Sequencer-Technik bedient hatten. Bei der folgenden Single „Temptation“ wurden Gitarre und Keyboard auf gleiche Art in Einklang gebracht. Mit dem geradezu euphorischen Text und der nicht weniger Optimismus ausstrahlenden Melodie sprangen New Order endgültig aus dem Schatten von Joy Division. Den avantgardistischen Tendenzen zum Trotz mauserte sich das Lied zum ersten Top-30-Hit für die Band. An der Musik bzw. ihrem Entstehungsprozess war allerdings noch etwas anderes neu: Sumner und Co. hatten LSD für sich entdeckt. „Ein Freund in Blackpool hatte mich damit bekannt gemacht“, erzählte Sumner dem Mojo: „Als ich im Studio in London ankam, war ich immer noch am Trippen. Während den Aufnahmen fing’s zu schneien an. Hooky und Gretton machten draußen zwei dicke Schneebälle und stopften sie mir mitten im Song hinten ins Hemd. Auf der Platte hört man sie ins Studio kommen und mich japsen.“

1982 trieb ihre Liebe zur Club-Szene New Yorks und zu zugehörigen Drogen eine besonders große und bunte Blüte: New Order und ihre Freunde um den Factory-Mitgründer Tony Wilson starteten ihren eigenen Club in Manchester: die Hacienda. Damit hatte die Factory-Szene nun auch einen geographischen Focus. Die Hacienda (vollständiger Name: „FAC 51 The Hacienda“) war der erste Club seiner Art in Großbritannien. Das Publikum jedoch wußte das neue Konzept nicht zu schätzen; und die wenigen Gäste, die erschienen, klauten alles, was nicht niet- und nagelfest war. Während ihr Glück als Veranstalter noch auf sich warten ließ, folgte für New Order die größte Explosion ihrer Bandkarriere: Im März 1983 erschien „Blue Monday“. Dieser Song, der auf fast unverschämt unkompliziertem Weg seine Linie von Kraftwerk zu Donna Summer zu Afrika Bambaataa bis hin zum Werk von HipHop-Punk-Produzent Arthur Baker zog, schießt New Order in Sphären, von denen Joy Division nie zu träumen gewagt hätten.

Mit Power, Corruption And Lie (1983), Low-Life (1985), Brotherhood (1986) und dem Ibiza-Dance-beeinflußten Technique (1989) – ganz zu schweigen von der großartigen Best-Of-Sammlung Substance (1987) – veröffentlichten New Order in der Folge eine Reihe von außerordentlich eleganten, Pop-orientierten und doch auch innovativen Alben. Der Erfolg war enorm, und doch wußte zumindest das britische Publikum an New Order weiterhin die widerborstigen Charakterzüge echter „Mancunians“ zu schätzen. Heute sagen sie selbst: Ihr Ruf als Finstermänner sei daher gekommen, dass sie sich der Presse gegenüber weiterhin rar machten. „Es hieß, wir seien schreckliche Trübsalbläser“, sagt Hook. „Dabei waren wir glücklich wie ein Schweinchen im Mist! Es ist doch kein Zeichen von Trübseligkeit, wenn man nicht mit der Presse redet. Nur ein Zeichen von Vernunft.“

Nicht überall im Reich von New Order, Factory und Hacienda waltete solche Vernunft. Zum Beispiel ließ man es sich gefallen, von Management und Label nie eine Verkaufsabrechnung vorgelegt zu bekommen. Peter Hook: „Wir können nur vermuten, dass Substance unsere bestverkaufte CD ist. Zwei Millionen allein in den USA. Doch alles andere ist ein großes Mysterium.“ Einmal kam die Band aus den USA zurück und musste den ganzen Profit der Konzertreise – rund 40.000 Pfund – an die überaus gefräßige Hacienda weiterleiten. „So wie die Sache strukturiert war, hätte es uns jedoch mehr gekostet, den Club zu schließen, als ihn offen zu halten“, erklärt Hook. „Es ist schwer zu glauben, wie naiv wir waren.“

Die unlauteren Praktiken des Plattenlabels und der Club-Leitung flogen auf, als die Steuerbehörde auf den Plan trat. Es stellte sich heraus, daß die Gelder, die Factory statt der Band zu geben in die Hacienda gesteckt hatte, zuerst hätten besteuert werden müssen. Das bedeutete eine saftige Nachsteuer-Zahlung plus ordentlichem Bußgeld – nicht für Factory, sondern für New Order. Zu allem Unheil hatten Drogengangs die Hacienda in ihre Kriegszone verwandelt. Hook: „Wie alle anderen Menschen auch, versuchten wir, diesen Streß mit Alkohol und Drogen zu vertreiben, und wir schafften es ausgezeichnet, darüber nicht zu reden, bis es zu spät war.“

Drei Jahre nach ihrer Fussball-Hymne „World In Motion“ – der offizielle Song für England für die Fußball-WM 1990 und die einzige Nummer eins in den UK-Charts – klang die Band auf dem 93er Album Republic nicht mehr legere, sondern lustlos. So wie sie das Clubleben auf Ibiza, wo die Platte eigentlich komplett aufgenommen werden sollte, genoß, so war es unter den dortigen Urlaubs/Nightlife-Bedingungen kaum möglich, dies wirklich zu tun. Dabei war dem Quartett zuletzt ein paar hundert Kilometer weiter nördlich das Glück endlich wieder hold gewesen: Die Buchhalter, die den Kollaps von Factory und Hacienda überwachten, entdeckten in den Akten einen Zettel, auf dem festgehalten war, daß alle Rechte an den Songs bei den Bands des Labels lagen. Das bedeutete, dass man anderswo neue Verträge aushandeln konnte und doch noch zu Geld kam.

Das Ende von New Order konnte das jedoch nicht mehr aufhalten. Der Split überraschte niemanden. Dass Repubic in dieser zerfahrenen Beziehung der Mitglieder überhaupt noch fertiggestellt werden konnte, war streng genommen die größere Sensation. Wenn er ihn nie mehr im Leben wieder sehe, sei das immer noch zu früh, soll Sumner Hook beim Abschied ins Gesicht geschrien haben. Danach schrie keiner mehr. Sie sprachen kein Wort mehr miteinander. Fünf Jahre lang. Sumner kaufte sich eine Yacht und blieb an der Seite von Ex-Smith Johnny Marr mit Electronic Chart-Gast. Hook lancierte nach Revenge seine Band Monaco und ließ sich scheiden. Morris und Gilbert legten als The Other Two zwei subtile Pop-Alben vor, denen leider genau das Schicksal beschert war, das sie sich mit dem sardonischen Namen prophezeit hatten.

Wir schreiben das Jahr 1998, es ist Frühling. Manager Rob Gretton hat wie jedes Jahr mehrere lukrative Offerten für Reunion-Auftritte bei den ganz großen Festivals vorliegen. Und diesmal geschieht tatsächlich das Wunder: Die vier Mitglieder von New Order sind gewillt, sich an den runden Tisch zu setzen. Morris und Sumner erscheinen sogar im selben Hemd. Hook behauptet, Sumner schulde ihm eine Zehn-Pfund-Note. Sumner zahlt. Innerhalb von drei Minuten ist alles weitere geklärt. Am 16. Juli 1998 treten New Order zum Comeback-Konzert auf die Bühne des Apollo Theatre in Manchester. Die Welle der Euphorie, die der Band entgegenschlägt, ist gewaltig. Die Welt hat auf sie gewartet.

Im Studio, das sich Morris in seinem Landhaus eingerichtet hat, sind die Arbeiten am Comeback-Album weit fortgeschritten, als Gretton einem Herzinfarkt erliegt. Wenig später wird die erst 18 Monate alte Tochter von Morris und Gilbert schwer krank. Gilbert beschließt, zu Hause zu bleiben und sie zu pflegen. Für sie wird neben dem neuen Gitarristen Phil Cunningham (Ex-Marion) auch Billy Corgan mit auf die Tournee gehen, die das Erscheinen des gitarrenlastigen Albums Get Ready begleitet. „Corgan ist schwierig“, sagt Hook: „Aber wenn man zu ihm sagt ’shut up you bald American cunt‘ beruhigt er sich.“

Heute, vier Jahre nach ihrem Comeback (wieder ohne Billy Corgan, immer noch ohne Gillian Gilbert und weiterhin mit Phil Cunningham) sind New Order stabiler denn je. Die Aufnahmen für die neue CD Waiting For The Siren’s Call verliefen so positiv, daß ein weiteres Album praktisch schon eingespielt ist. Und noch mehr Schweinchen-im-Mist-Glück für New Order: Die Veröffentlichung des achten Studioalbums fällt in eine Phase, in der die bisher eher vernachlässigten, zumeist sogar geschmähten (frühen) 80er Jahre als künstlerische Inspirationsquelle für Popbands entdeckt werden – sogar bis hin zu Moby, der auf seinem aktuellen Album „Temptation“ covert. „Keine Ahnung, warum das gerade jetzt passiert“, meint Hook: „Aber auf jeden Fall ist es besser, als wenn du nur mit einer Papiertüte auf dem Kopf auf die Straße kannst, weil dir sonst alle nachbrüllen: ‚Da geht das Arschloch von New Order!'“

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