Paradise Lost: Berlin, ColumbiaFritz


DAS SCHLIMMSTE, WAS EINE ROCKband nach Meinung der Geschmacksgendarmerie treiben kann: Sie produziert unverschämt wiedererkennbare Musik. Oder tut das Gegenteil. Paradise Lost glückt neuerdings von Album zu Album beides. Über Jahre war die Band aus der nordostenglischen Provinz ein Garant für schaurigen Schummer-Rock. Dann plötzlich konvertierte die Düstercombo mit „One Second“ (1997) zu melodiesatter Opulenz. Nun, an der Jahrtausendschwelle, sind die eindrucksvollen Weisen wohl geblieben, doch der Fünfer präsentiert auf dem ’99er-Album „Host“ sampledrallen, festplatteninfizierten Techno-Rock. Die Einen halten das für eine kreative Initiative wider das langweilende Business. Traditionalisten aber sind den permanenten Wechsel-Gelüsten des Quintetts weniger denn je gewachsen. Im Auditorium des Columbia Fritz überwiegen sie vernehmlich und jubeln stets dann, wenn Stoff à la“Shadowkings“ oder „True Belief“ erklingt. Sänger Nick Holmes nennt das „fucking vintage“. Fast angewidert singt er die Songs der frühen Jahre. Sich Aug‘ in Aug‘ mit ihren alten Fanbataillonen allzu deutlich zum Neuen bekennen mag die Band wiederum auch nicht – Keyboards samt Elektroniker werden genierlich im Bühnen-Orkus vernebelt. Doch die auf dem Album oft übertrieben keimfreie Musik entsendet live ganz neuen Appeal. Bei aller kontemporären Liftung grollt die knisternde Soundmixtur wie ein nahes Ungewitter. Holmes, noch bleich vom Vorabend, schwarzgewandet.frei von Theatralik, gebietet unumstritten über die Walstatt. Der vortreffliche Sound-Erfinder, Komponist und Gitarrist Greg Mackintosh brilliert vorzugsweise im zweiten Glied. „So Much Is Lost“,“Disappear“ oder „Nothing Sacred“ sind robuste, melodieschwangere Songs auf der Höhe der Zeit. Ohne Frage: Dieser mikroelektronisch getunete Dark Rock könnte eine Alternative sein, den gemeinen Rock ’n‘ Roll übers Millennium zu hieven. Hintereinanderweg und ohne alle Mätzchen spielt sich die Band durchs spannende Tracklisting. Nach knapp eineinhalb Stunden als Krönung „One Second“. Paradise lost? Paradise found!