Platten Knacker AG


Den Bootleggern geht's an den Kragen

Konsumenten-Kavaliere oder Kunst-Kriminelle — die „Raubpresser“ sind wieder ins Gerede gekommen. Für die beinharten Fans sind die Bootlegger die letzten Robin Hoods, für die Plattenindustrie hingegen kaltblütige Mafiosi. Seit das Strafrecht verschärft wurde, haben die illegalen Plattenproduzenten jedenfalls wenig zu lachen: In Wuppertal wanderte jetzt erstmals ein Bootlegger in den Knast. Höchste Zeit also für den großen Bootleg-Report Thomas Edison ist an allem Schuld. Der Erfinder der Glühbirne schenkte zur Jahrhundertwende dem Archivar der Metropolitan Opera in New York, Mapleson, einen zylinderförmigen Recorder. Und Mapleson wußte das Präsent sinnvoll zu nutzen: Er hockte sich in die Oper und schnitt ungenehmigt Aufführungen mit. Es war die Geburtsstunde des Bootlegging, auch wenn der Begriff „Bootlegs“ damals noch gar nicht existierte. Der Terminus wurde erst 30 Jahre später, während der Prohibitions-Zeit in Amerika, aus der Taufe gehoben, als nämlich die Hersteller und Vertreiber des schwarz gebrannten Alkohols mit diesem Namen bedacht wurden.

Zur gleichen Zeit tauchten auch die ersten Musik-Bootlegs mit Jazz. Blues- und Opern-Aufnahmen auf. Dieser Markt hielt sich beständig: noch heute gibt es ein riesiges Angebot von Opern-Raubkopien, das dem der Pop-Bootlegs kaum nachsteht.

Die Geschichte des Rock-Bootlegging begann eigentlich erst l969 und ist untrennbar mit dem Namen Robert Zimmermann verbunden. Denn Bob Dylan selbst, so heißt es, soll die Bänder einer Session mit seiner Begleitgruppe „The Band“ an einen Bootlegger weitergegeben haben. Daraus entstand GREAT WHITE WONDER, der vermutlich bekannteste Boot aller Zeiten, der Schätzungen zufolge mehr als 350000 mal verkauft wurde.

Wenig später kursierten die ersten Bootlegs der Beatles und Rolling Stones auf dem neuen Schwarzmarkt, der Anfang der 70er Jahre explosionsartig expandierte. Kein Wunder — offizielle Schallplatten kosteten damals stolze 22 Märker; da waren Platten zu 12—14 Mark, obendrein mit nie gehörten Song-Versionen von den Lieblingsbands, eine verlockende Alternative.

Die Bootlegs dieser Zeit kamen fast alle aus dem Ausland. In den USA hatten die Platten-Piraten sehr bald eine den „major companies“ ähnliche Infrastruktur mit eigenen Labels, Presswerken und riesigen Verteilerstäben aufgebaut, die die qualitativ erstaunlich guten in alle Länder verfrachteten.

Ein Hamburger Jugendheim bildete die Kulisse für das erste in Deutschland produzierte Bootleg. Der Raubmitschnitt eines Konzertes der Gruppe Hardin & York gefiel den Fans besser als das offizielle Material der Band und wurde sogar im „Spiegel“ wohlwollend erwähnt.

Und Fans waren es auch, die diese Bootlegs herstellten, weil sie ihren Lieblingskünstler nicht nur auf geglätteten Studio-Aufnahmen hören wollten. Ein anderes Motiv: man hoffte, dem Sammler-Kollegen von nebenan mit einer Rarität zu imponieren. Das, was nicht jeder hat, wollten plötzlich viele haben. Der Bootleg-Boom setzte ein und führte dazu, „daß Deutschland im Laufe der Jahre zum El Dorado der Bootlegger wurde“, wie Bernhard Woelke von der GEMA erzählt.

Der Mann muß es wissen. Da die GEMA mit rund 13 Millionen Titeln fast das gesamte Weltrepertoire an Musik urheberrechtlich schützt, tritt Rechtsanwalt Woelke als Leiter der Abteilung „Piraterieverfolgung“ immer dann auf den Plan, wenn Bootlegs hergestellt werden. „Anfangs“, so Woelke, „bestand die Bootleg-Szene nur aus Sammlern, die sich gegenseitig mit illegalen Mitschnitten versorgten. Irgendwann haben die Sammler gemerkt, daß man damit ja Geld verdienen kann — und so wurde das Bootlegging zu einem Tummelplatz für Geschäftemacher. In den 70em fanden diese Leute auch mehr und mehr kleine Preßwerke in Deutschland, wo sie ihre Raubmitschnitte anfertigen lassen konnten. In Riesenschritten eroberte Deutschland die führende Position auf dem Weltmarkt; zeitweise wurden bis zu 50 Prozent aller Bootleg-Produktionen hierzulande hergestellt. „

Heute, meint Woelke, kämen in Deutschland jährlich 1000 neue Titel (Auflage pro Titel: 500 bis 5000) auf den Markt — mit einer geschätzten Stückzahl von rund zwei bis drei Millionen. Der GEMA-Anwalt rechnet vor: „Geht man davon aus, daß der durchschnittliche Verkaufspreis eines Bootlegs heute bei 25 bis 30 Mark liegt, dann beträgt der Umsatz dieser Branche jährlich etwa 60—90 Millionen Mark.“

Sammler, die schon jahrelang den Markt beobachten, halten diese Zahlen für „stark übertrieben“, wie Volker Kluge aus einer Ruhrgebiets-Kleinstadt meint. Er jagt schon seit Jahren seltenen Raubpressungen, bevorzugt von den Stones und Pink Floyd, hinterher, weil ihn „das offizielle Angebot nicht befriedigt und ganz selten gute Live-Platten von der Industrie veröffentlicht werden“.

Juristisch hat das Sammeln von illegalem Plattenmaterial keine Konsequenzen. Strafbar ist nach § 106 und § 108 a des Urheberrechts nur das „Vervielfältigen und Verbreiten“ der nicht genehmigten Tonträger. Doch wer aufgrund dieser Paragraphen angeklagt wird, den erwartet mittlerweile eine saftige Strafe.

Die zu Beginn der 80er Jahre von der Mafia im großen Stil betriebene Video-Piraterie und der „seit Jahren beträchtliche Markt illegaler Tonträger“, so GEMAs Woelke, führten im Juli 1985 dazu, daß der Bundestag ein verschärftes Urheberstrafrecht verabschiedete. Das Strafmaß wurde von maximal einem auf fünf Jahre Freiheitsentzug erhöht; die Möglichkeit, jemanden aufgrund einer Urheberrechtsverletzung anzuzeigen, liegt nun auch nicht mehr allein beim Copyright-Schützenden — in diesem Falle der GEMA. Mit anderen Worten: Jeder kann jeden anzeigen „wg. bootlegging“ — und die Staatsanwaltschaft muß beim kleinsten Verdacht auf gewerbsmäßigen Handel automatisch ermitteln.

Damit haben sich die Möglichkeiten, gegen die Platten-Piraten vorzugehen, enorm vergrößert. Rechtsanwalt Woelke weiß dies aus seiner täglichen Praxis: „Diese Gesetzesänderung war überfällig. Es konnte auch nicht angehen, daß Diebstahl geistigen Eigentums milder geahndet wird als der von materiellen Gütern. Vor der Gesetzesänderung sind die Bootlegger immer glimpflich davongekommen. Von den rund 50 Ermittlungen, die wir zu dieser Zeit jährlich durchführten, wurden bei der Staatsanwaltschaft gut 60 Prozent der Verfahren gegen Zahlung einer Geldbuße eingestellt. Nur in etwa fünf Fällen kam es zu einer Gerichtsverhandlung — und auch hier endeten alle Prozesse mit einer Geldstrafe, die selten über 10000 Mark lag.

Das war ja absolut lächerlich. Wenn wir einen vor Gericht gebracht hatten.

mußten wir mitansehen, wie der Mann während seiner Verhandlung seine illegalen Geschäfte weiterbetrieb, weil die zu erwartende Strafe keine abschreckende Wirkung hatte.

Das ist jetzt anders. Nun überlegen es sich die Piraten zweimal, ob sie ein neues Bootleg herausbringen.“

Der GEMA-Anwalt spielt damit auf die jüngsten Fälle in Wuppertal an, wo erstmals mutmaßliche Bootlegger zu einer Freiheitsstrafe verurteilt bzw. monatelang in Untersuchungshaft gehalten wurden. (Siehe Kasten auf der rechten Seite) Bei den Ermittlungen in diesen Fällen war auch die deutsche Landesgruppe der IFPI (International Federation of Phonographic Industrie) beteiligt. Die IFPI ist der im Jahre 1933 gegründete internationale Verband der Tonträger-Hersteller mit weltweit über 60 Landesgruppen. Seit 1972 hat der Dachverband der Phono-Industrie eine eigene Piraterieverfolgungs-Abteilung, aber vor dem Jahr 1983 „haben wir nichts unternommen“, erklärt ein Sprecher der IFPI. „Irgendwann aber haben wir gemerkt, daß hier ein riesiger krimineller Sektor entstanden ist. wo immense Summen gescheffelt werden. Zu dieser Zeit erhielten wir auch die schriftliche Genehmigung von Künstlern wie Bob Dvlan, David Bowie, Bruce Springsteen, Queen, Pink Floyd und den Rolling Stones, gegen Bootlegger vorzugehen. Die Künstler haben gemerkt, daß sie hier hinters Licht geführt werden“.

Louis Spillmann, Geschäftsführer der Phonogram in Hamburg, stößt ins gleiche Horn: „Die Leute müssen ganz einfach realisieren, daß es unfair ist, die Leistung eines Künstlers in Anspruch zu nehmen, ohne ihn dafür zu bezahlen. Wenn ein Schwarzhändler 1000 Bootlegs verkauft, muß ich von einer offiziellen Produktion schon 20 000 bis 30000 Alben verkaufen, um den gleichen Gewinn einzufahren.

Mit fortschreitender Technik wird zudem die Qualität der Bootlegs immer besser; folglich werden Raubpressungen auch für Leute interessant, die Bootlegs bisher wegen der schlechten Aufnahmequalität abgelehnt haben.“

Dennoch will man in der Industrie, so CBS-Marketing-Chef Heinz Canibol, den „ursprünglich idealistischen Ansatz des Bootlegging“ nicht verhehlen, wenn auch die „Promotionwirkung der Raubmitschnitte für die Künstler mehr als fragwürdig“ sei.

In der Vorstandsetage des Kölner EMI-Electrola-Konzerns beurteilt man dies ähnlich. Geschäftsführer Helmut Fest: „Im Bootlegging sieht man ja allgemein eine moderne Robin Hood-Mentalitäl: Man schröpft die reichen Platten-Multis und gibt es den Armen. Aber auch wenn dieses Geschäft aus Idealismus betrieben wird, was heute wohl nur noch ganz sehen der Fall sein dürfte, ist es immer noch Diebstahl geistigen Eigentums. Und ein Diebstahl wird nicht dadurch besser, wenn er aus angeblich edlen Motiven geschieht.“

Stichwort Diebstahl. Die Plattenindustrie wird noch von einer Form des Kunst-Klaus gebeutelt, der sie weitaus empfindlicher trifft wie illegale Mitschnitte: das sogenannte Counterfeiting. Darunter versteht man Fälschungen von offiziellen Alben, die vom Vinyl bis zum Cover mit dem von einer Plattenfirma veröffentlichten Produkt identisch sind. Von den 2.6 Milliarden Mark, die die Phono-Industrie ’86 umsetzte, so errechnete die IFPI, waren rund 5 Prozent illegale Ware. Der weitaus größte Brocken am „schwarzen“ Plattenkuchen entfällt auf die Counterfeits.

„Dieser Markt ist von der Stückzahl etwa dreimal größer wie der der Bootlegs“, rechnet der Chef der Ariola-Rechtsabteilung, Eduard Mönch, vor. „Identfälschungen kommen zum großen Teil aus Südostasien, wo der

gesamte Platten-Markt zu 25 Prozent aus Fälschungen besteht. Auch Italien ist noch groß im Conterfeii-Geschäft, da die Mafia dort kräftig mitmischt.“

Obwohl die Plattenindustrie keinen qualitativen Unterschied zwischen Bootlegs und Counterfeits sieht —“.Rechtsbruch ist Rechtsbruch“ (Heinz Canibol) — sind zum Bereich „illegale Konzertmitschnitte“ erstaunliche Signale zu vernehmen. Phonogram-Boß Louis Spillmann: „Wenn ein Bootlegger zu dem Künstler, dessen Konzert er mitgeschnitten hat, hingehen und ihm die Bänder vorspielen würde und der Künstler einer Veröffentlichung zustimmte, könnte man sich darüber unterhalten, solche autorisierten Bootlegs in einer kleinen Auflage herauszubringen. Das wäre in Ordnung. „

Zweimal hat die Industrie schon mit dem Begriff „Bootleg“ operiert: Sowohl von Graham Parker als auch von Tom Petty wurden in den Jahren 1976 bzw. 1977 „Official Live Bootlegs“ als Promo-Platten hergestellt.

„Eine gewisse Promotionwirkung von Bootlegs ist in Frankreich auch sicher nicht abzuleugnen“. resümiert Ariola-Pressechef Hanns-Peter Bushoff, „aber solche Mitschnitte sind in erster Linie ein Betrug am Künstler, da er keinen Einfluß auf die Art der Veröffentlichung seines Materials hat. „

Über solche Argumente kann Dieter Hoffmann aus dem Rhein-Main-Gebiet nur lachen. „Die Künstler sind doch auf Bootlegs angewiesen. So bleiben sie doch ständig im Gespräch“, meint der passionierte Sammler, der jüngst ein Buch über die Bootlegs der Rolling Stones (Titel: Schwarzbuch „Rolling Stones“) veröffentlichte.

Mit dem Besuch eines Stones-Konzerts ’76 fing bei ihm alles an. „Ich war damals total begeistert und rannte hinterher in einen Laden, um alle Platten zu kaufen, die es von den Stones gab. Aber nach 45 Alben war Schluß. Ich wollte noch mehr.“ Dieter Hoffmann bekam „mehr“. Er sammelte fortan Bootlegs von den Rolling Stones wie „andere Leute Briefmarken“. Heute hat er rund 1000 verschiedene Boots von Jagger & Co. im Regal stehen.

Die „Greatest Band on Earth“, wie sie im Bootlegger-Jargon heißt, ist mit jenen 1000 Titeln die meistgebootetste Band aller Zeiten. Nimmt man die Bootleg-Bibel „Hot Wacks“ aus Kanada zur Grundlage, folgen dahinter die Beatles (331 Titel). Bob Dylan (190), Bruce Springsteen (144), Led Zeppelin (140), Frank Zappa (111) und Elvis Presley (109).

Wie denken nun die Künstler, die (neben dem steuerlich hintergangenen Staat) eigentlich geschädigten, über Bootlegs? Sie sind sich uneinig! Da gibt es Bands wie Grateful Dead, die die Fans zum Mitschneiden der Gigs geradezu auffordern, und andere, die über Anwälte und Phono-Verband gegen Piraten vorgehen.

Die Einstellung zu Bootlegs hängt beim jeweiligen Künstler oft auch mit der augenblicklichen Popularität zusammen. Bruce Springsteen etwa rief früher auf Konzerten: „Bootlegger, holt eure Mikrofone raus, jetzt kommt ein tolles Stück.“ Heute läßt er die gleichen Leute über die IFPI verfolgen. Bei Bob Dylan ist es ähnlich. Sobald eine Gruppe noch unbekannt ist, empfindet sie Bootlegs als Ehrung, doch ist sie erst einmal populär, werden die Mitschnitte verurteilt.

Auch die britische Band Marillion hat diese Entwicklung hinter sich. Mark Kelly. Keyboarder und Sammler aller Band-Boots, erinnert sich:

„Als früher jemand zu uns kam und fragte, ob er unser Konzert mitschneiden könnte, haben wir freudig zugestimmt. Doch irgendwann sind wir sehr populär geworden und bekamen in der Öffentlichkeit ein Image. Wir haben nun mal das Image, eine gute Live-Band zu sein, und können es uns daher nicht leisten, daß Marillion-Bootlegs mit schlechter Tonqualität in der Öffentlichkeit gehandelt werden. „

Um dem großen Markt von Raubmitschnitten das Wasser abzugraben, hat die Band jetzt einen Plan entwickelt. Kelly. „Wir sprechen zur Zeit mit unserer Plattenfirma darüber, im Frühsommer eine offizielle Live-LP von der laufenden Welttournee herauszubringen. Dieser Platte liegt ein Bestellschein bei, mit dem man einen Kassetten-Mitschnitt von federn beliebigen Konzert dieser Tournee ordern kann. So können die Fans ein technisch hochwertiges Tape von dem Konzert bekommen, das sie besucht haben.“

Die Aufnahmetechnik hingegen ist für BAP-Frontmann Wolfgang Niedecken nicht einmal das Entscheidende an einem Konzertmitschnitt. „Wenn ich so eine Aufnahme höre, will ich etwas von dem Feeling dieses Konzertes mitbekommen. Und diesbezüglich sind Bootlegs, im Gegensatz zu offiziellen Live-Platten etwa der Eagles oder von Supertramp, einfach hervorragend. Kein Künstler ist dadurch ernsthaft beschädigt.“

Ob Künstler-Schädigung oder nicht —die Bootleg-Quelle wird auch durch die jüngst verhängten Freiheitsstrafen nicht versiegen, meint jedenfalls GEMA-Fahnder Woelke: „Es wird immer Leute geben, die jeden Preis zahlen, nur um etwas anderes, nicht offizielles zu haben.“