R.E.M.: Geht das nicht schneller?


Nach dem seelenlosen Vorgänger haben sich R.E.M. für accelerate Feuer unterm Hintern gemacht. Höheres Tempo, mehr Spontaneität - so einfach geht das? Fragen wir Buck und Mills, aber fragen wir vor allem: Stipe.

Du hattest absolut recht mit dem, was du gesagt hast, als wir uns das letzte Mal getroffen haben.

Michael stipe: Womit?

Dass euer neues Album wieder mehr geradezu ist, dass es mehr rockt.

Ah, okay.

Es ist auch um einiges schneller…

Das 14. Studioalbum von R.E.M. heißt accelerate. „Accelerate“ bedeutet „beschleunigen“. So funktioniert das also: Eine Band wird schneller und schon klappt es auch wieder mit der Musik… Nun, obwohl ein solches Urteil unter dem wichtigen journalistischen Grundsatz der Trennung von Bericht und Kommentar eigentlich dem Plattenkritiker vorbehalten bleiben sollte: Die neue Platte ist ein gutes Stück besser als around the sun. Das sagen R.E.M. ja selbst. Auch wenn Michael Stipe keine weitere Sekunde vergehen lässt, um zu unterstreichen, dass around the sun „ein paar wirklich schöne Songs“ enthält.

Doch Peter Bück erinnert sich vor allem daran:

„Das Ding brachte uns schlicht zum Durchdrehen. Ich bin wohl der Einzige, der das zugibt. Aber es machte uns einfach alle verrückt. Die Platte ist im Ergebnis ja nicht gerade fürchterlich, nur leider ziemlich glatt, seelenlos und kalt. Dabei hätte sie großartig werden können.“ Kein Zweifel, R.E.M.hatten sich verfranzt. Sie waren nicht etwa nur ein wenig zu ausgeglichen oder uninspiriert an die Arbeit gegangen, was man etablierten Künstlern schnell verzeiht. Sie hatten komplett ihren Fokus verloren. Weil sie mitten hinein in die Arbeit an around the sun der Zusammenstellung der Hitsammlung in time den Vorzug gaben, zwei bereits aufgenommene Stücke dort hinzu montierten und auch noch auf Tour gingen.

„Ich habe unmissverständlich klargemacht, dass ich nicht bereit bin, noch einmal so aufzunehmen“, erzählt Bück: „Wenn das ihre Idee von der Arbeit an einer Platte sein sollte – für acht Monate ein Studio buchen und einfach mal schauen, was passiert -, werde ich da nicht mitmachen.“

Das habe er ihnen gesagt – Stipe und dem Bassisten Mike Mills, Schlagzeuger Bill Rieflin und dem zweiten Gitarristen Scott McCaughey. „Weißt du, wir sind eine der besten Livebands der Welt. Wir marschieren da raus und sind richtig gut. Also lasst uns genau das einfangen, statt uns ewig über irgendwelche Dinge den Kopf zu zerbrechen.“ Alle wussten längst, dass Peter Buck recht hatte.

Um einen „clean start“ zu machen, wechselte die Band den Produzenten – von Patrick McCarthy, der bei den letzten drei Alben mitgearbeitet hatte, zu Jacknife Lee. Der ging u. a. Bloc Party, Editors, U2 zur Hand. Und er war offenbar auch der psychologischen Aufgabe gewachsen, die mit seinem Amt verbunden war: Stipe beschreibt sich, Buck und Mills als „dickköpfig und unglaublich schwierig“, bei der Arbeit oft nicht einmal mehr fähig, verbal zu kommunizieren. jacknife lee: Eure letzte Platte hört sich nicht danach an, als hätte irgendjemand Spaß daran gehabt, sie zu machen.

Peter Buck: Das stimmt. Keinem hat es gefallen. Es war einfach nur Arbeit. Eine furchtbare Arbeit. jacknife lee: Ihr müsst unbedingt eine richtig spannende Platte machen!

(Gesprächsprotokoll laut Peter Buck)

So konnte das was werden.

Jackknife Lee wurde wegen seines Sounds engagiert. Aber mit ihm kam auch Tempo und Spontaneität in die Sache. Noch während der Aufnahmen probierten R.E.M., wie damals in den 8oern, Songs an fünf Abenden live in Dublin aus, in dessen Nähe ein Teil des Albums eingespielt wurde. Zuvor gab es Aufnahmen in Vancouver, zuletzt in Athens. Dazwischen nahm sich die Band zwar Pausen, aber letztlich „machten wir die Platte in neun Wochen, so schnell haben wir das seit 1987 nicht mehr geschafft“, berichtet Stipe. Also ist es wohl auch kein Zufall, wenn Kritiker accelerate sogar mit den legendären Werken document oder Green vergleichen. Bück nickt, Stipe widerspricht nicht groß, nur Mills hat Angst, dass das jemand in den falschen Hals bekommen könnte: „Es gab nicht einen Punkt in unserer Karriere, an dem wir sagten: Lass uns noch einmal klingen wie früher. Das hier ist R.E.M. 2008! Fans und Journalisten mag es vielleicht an document oder sonstwas erinnern – aber so funktioniert das bei uns nicht.“

Was allerdings auch nicht funktioniert, ist, was eingangs dieses Artikels vermutet wurde: R.E.M. kommen von der Straße ab, kurbeln zurück, treten dann kräftig aufs Gas, tun alles schneller, spontaner und… nennen diese Platte einfach mal accelerate. Vrooom! Da hat der Leser die Rechnung aber ohne den Stipe gemacht: „Ich erinnere mich daran, als ich 13 war oder so und mir überlegte: Wie könnte wohl das 21. Jahrhundert aussehen? Ich war mir sicher, dass wir es schon zur Zeit der Jahrtausendwende wirklich zu etwas gebracht haben werden. Dass wir bis dahin Lösungen für viele Probleme in der Welt finden werden. Doch was ist tatsächlich passiert? Es sitzen Leute an der Macht, die uns einfach zurückgezerrt haben zu dieser 50er-Jahre-Idee davon, wie die Gesellschaft funktionieren sollte. Wir haben so fast schon eine Dekade in diesem Jahrzehnt hinter umgebracht, und ich habe keine Ahnung, was ich davon halten soll. Und ich fürchte, das weiß auch sonst keiner. Accelerate‘ beschreibt für mich dabei das Tempo, mit dem wir alle unterwegs sind. So haben wir inzwischen eine Stufe erreicht, auf der wir alle unter dem Aufmerksamkeitsdefizit- und Hyperaktivitätssyndrom leiden. Keiner hat mehr die Zeit für irgendwas. Keiner findet die Ruhe, nachzudenken. Das ist auch ein geschaffener Zustand, nicht nur durch unsere politische Führung, auch durch die Medien. Und ich glaube, dass unser Album einen Kommentar zu diesen Dingen abgibt.“

Uff. Vielleicht können wir uns heute ja mal darauf einigen: Die Band heißt R.E.M.. Sie besteht aus dem so spontanen wie zielstrebigen Peter Buck, der Gitarre spielt – Mike Mills, dem bestimmten, versierten Bassisten – und aus Michael Stipe. Und der macht den entscheidenden Unterschied.

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