R.E.M.: Stipe Visite


Sie zählen nicht nur zu den besten Bands der Welt, sie sind auch die bestbezahlte Band der Welt. Doch nun. nach 18 Jahren im Musikbusiness, wagen R.E.M. mit ihrer neuen Platte "Up" den mutigsten Schritt ihrer Karriere.

DIE FENSTER NACH MANHATTAN STEHEN WEIT OFFEN. Hier oben jedoch, im neunten Stock des Hotels Plaza Athenee, kommt der feierabendliche Lärm der Straße als fast beruhigender Brummton an. Nicht lauter als die summende Minibar. Orangensaft und Wasser in Kristallkaraffen stehen auf einem gläsernen Tischchen bereit. Mit gedämpfter Stimme tauschen die geladenen Journalisten Höflichkeiten aus. Aus Tokio, Stockholm, Amsterdam, Rom, Paris und München sind sie angereist – um sich eine Platte anzuhören, um mit ein paar Musikern zu sprechen. Und weil niemand so recht weiß, was ihn hier eigentlich erwartet, machen alle vorsichtshalber ein unbestechliches Gesicht. Leise tickt die antike Standuhr, ein bedächtiges Metronom. Der japanische Kollege rührt sich gerade Milch in seinen Kaffee, als der Sturm plötzlich losbricht. Ein hohes elektrisches Flirren. Das weiche Schleifen übereinander gelegter Moogs. Und eine völlig verstimmte Gitarre. Vorangepeitscht vom stoischen, maschinellen Beat schwillt das Crescendo dräuend an, und dann brüllt jemand in den Orkan aus Klang und Chaos: „Ihr seid die ersten Journalisten, die das fertige Album hören!“ Es ist Sue Wildish vom Plattengiganten Warner. Sie steht an den Reglern der riesigen schwarzen Anlage und nickt aufmunternd. Kein Wunder. Ihr Arbeitgeber hat vor zwei Jahren für die Verlängerung seines Vertrages mit R.E.M. die sagenhafte Summe von 80 Millionen Dollar auf den Tisch gelegt – und wohl nichts dagegen, würde sich diese Investition eines Tages auch amortisieren. Die Verkäufe werden sich messen lassen müssen an „Automatic ForThe People“, das im Oktober 1992 auf den Markt kam und inzwischen in über sieben Millionen Plattenschränken steht. „Man On The Moon“, „Everybody Hurts“ oder „Nightswimming“ waren die Zugpferde eines Albums, in dem das akustische, melancholische Potential der Gruppe kulminierte. Auf rotzigen, schweißtreibenden Rock setzten R.E.M. mit dem vergleichsweise brachialen „Monster“ – und enttäuschten auf diese Weise viele Fans, die auf Ohrwürmer wie „Losing My Religion“ gehofft hatten. Dennoch: Selbst von „Monster“ konnten über fünf Millionen Exemplare abgesetzt werden. Das anspruchsvolle Nachfolgewerk „New Adventures In Hi-Fi“ (1996) blieb selbst hinter dieser Zahl zurück. Doch ging auch diese elegante Synthese aus den beiden vorangegangenen Werken immerhin noch zweieinhalb Millionen mal über die Ladentische. Und nun? Ja nun ist man allerorten gespannt, wie die neuen Songs von R.E.M. beim Publikum ankommen. Zumal mit Schlagzeuger Bill Berry ein Viertel der Band im Herbst 1997 vorzeitig in den Ruhestand ging. Und zwar mit der Begründung, sich mit 40 Jahren zu alt für den Rockzirkus zu fühlen. Doch R.E.M. blicken lieber nach vorn als zurück, würden in künstlerischer Hinsicht am liebsten gleich mehrere Stufen auf einmal nehmen. Das Resultat ist ein Album, das seine Bestimmung stolz im Titel trägt: „Up“ ist ungefähr so kryptisch wie James Joyces „Ulysses“. Als im Rahmen der Präsentation das zirpende, wummernde und absichtlich dissonante Werk nach knapp siebzig Minuten ausklingt, fragt die Dame von der Plattenfirma in die ratlose Runde: „Und? Was haltet ihr davon?“ Sie erntet respektvolles Stimrunzeln und fügt, als hätte sie damit gerechnet, rasch hinzu: „Am besten fragt ihr morgen die Musiker selbst, was sie sich dabei gedacht haben.“

„WAS WIR UNS DABEI GEDACHT HABEN?“ BLAFFT PETER BLICK UND verschränkt abwehrend die Arme vor der Brust. Zusätzlich verbarrikadiert hinter übereinandergeschlagenen Beinen und einer dunklen Sonnenbrille, läßt er keinen Zweifel daran aufkommen, wie prickelnd er Interviews findet: „Es ist der einzige Weg, nicht langweilig zu werden. Wir wollen nicht enden wie die Rolling Stones, die als menschliche Jukebox auf der Bühne stehen und im Studio nur Altbekanntes variieren. Wenn die Musik lebendig bleiben soll, mußt du sie einfach in neue Richtungen drängen. Das ist auch der Grund, warum ,Up‘ beim ersten Hören nicht nach R.E.M. klingt.“ Für die gröbste Abweichung vom bisherigen Kurs, hat allerdings Schlagzeuger Bill Berry gesorgt. Der erschien zwar noch zu der ersten Aufhahmesessions in San Francisco, erklärte dann aber überraschend seinen Ausstieg – und wurde prompt durch einen synthetischen Rhythmusgeber ersetzt. „Natürlich hat es jeden einzelnen Aspekt des Aufnahmeprozesses geändert, diesmal ohne Bill im Studio zu sitzen“, räumt Bück mit professionellem Bedauern ein. „Aber auf all meinen Demos benutzte ich bereits Drummaschinen, billige kleine Loops und Samples. Und als Bill reinkam und sagte: ‚Hört zu, Jungs, ich will nicht mehr mitmachen.‘ – da erschien es uns nur schlüssig, in dieser Richtung weiterzuarbeiten. Wir mußten absolut neu sortieren, was es für uns heißt, in einer Rockband zu spielen. Es war eine echte Chance, weil diesmal keiner von uns wußte, was er spielen würde.“ Neben Banjos, Sitars und Moogs fanden vor allem analoge Synthesizer und angestaubte Taktmaschinen ihren Weg auf das Album. Wer hat die ehrwürdigen Maschinen programmiert? „Da gibt es nichts zu programmieren“, sagt Bück mit einem flüchtigen lächeln, „diese Dinger sind so alt, daß man sie einfach nur einschalten muß. Und dann kann man höchstens noch wählen zwischen Samba, Bossanova oder Country & Western. Manchmal jage ich die Beats durch eine Fuzz Box (ein Effektgerät/Anm. d. Red.) oder experimentiere mit Verzögerungen, um die gewünschte Klangfarbe hinzubekommen.“

Nun kommt Mike Mills in den Raum gefedert, entschuldigt sich per Händedruck für seine Verspätung und pflanzt sich neben Peter Buck aufs Sofa. Mit seinen blondgefärbten Haaren, der schwarzen Hornbrille und einem milden Dauergrinsen wirkt Mills wie ein freundlicher Musiklehrer. Wie reagiert der Bassist, wenn sein Rhythmuspartner durch einen grauen Stahlkasten mit Knöpfen ersetzt wird? „Oh, gar nicht!“ meint Mills und deutet mit dem Daumen auf Bück: „Er hat die meisten Baßläufe selbst eingespielt. Ich habe mich um die Keyboards gekümmert. Nimm‘ zum Beispiel ‚Walls To Climb‘ – ein netter Song, aber mit seinen Mandolinen war er uns ein wenig zu traditionell. Also war es mein Job, alles Akustische runterzunehmen und statt dessen diesen abgefahrenen lärm auf die Tonspur zu klatschen. Die Leute werden ziemlich überrascht sein. Wir haben uns von Krautrock beeinflußen lassen, von Can und Amon Düül.“ – „Mit zwei Einschränkungen“, meldet sich Buck zu Wort: „Je schneller das Zeug ist, desto weniger mag ich es. Und schau dir diese HipHop-Acts an. KRS One, Public Enemy oder A Tribe Called Quest. Das funktioniert live nicht mehr: ein Haufen Typen, die zu Playback Faxen machen. Das ist einfach lächerlich!“

Gibt es eine aktuelle deutsche Band, die den Herren ein Begriff ist? Mills schüttelt bedauernd den Kopf, doch Bück fragt nach kurzer Denkpause: „Gibt’s die Toten Hosen noch? Punkrock ist zwar zu einer stockkonservativen Sache geworden, aber er macht immer noch Spaß. Und darum geht’s doch.“

Darum ging’s auch, als R.E.M. am 5. April 1980 in einer Kirche in ihrer Heimatstadt Athens/Georgia ihr erstes Konzert gaben, damals noch unter dem Namen Twisled Kites. Punk und britischer New Wave waren die richtigen Werkzeuge, dem Mief der Provinz Paroli zu bieten. Und die angesagten Platten aus Übersee führte Peter Buck in seinem Plattenladen „Wuxtry Records“. Dort kreuzten sich erstmals ihre Wege: Mike Mills, der als Drucker für die Tageszeitung von Athens arbeitete. Michael Stipe, der als Kunststudent an der Universität von Georgia eingeschrieben war. Und Bill Berry, der sich damals als Studiodrummer seine Brötchen verdiente. Mit ihren Auftritten im heute legendären 40 Watts Club erwirtschafteten R.E.M. das Startkapital, ihre erste Single einzuspielen. „Radio Free Europe“ machte einen so tiefen Eindruck auf Miles Copeland, daß er die Newcomer für sein I.R.S.-Label unter Vertrag nahm – und im Vorprogramm von Police auf Tour schickte. Schon die erste EP – das spielerisch zwischen Byrds und Velvet Underground changierende „Chronic Town (1982) erntete begeisterte Kritiken, das traumgleiche Debütalbum „Murmur“ (1983) erreichte prompt Platz 36 der amerikanischen LP-Charts. Und bald wurden R.E.M. in einem Atemzug genannt mit anderen Helden des originären Alternative Rock. Doch während alte Weggefährten wie Black Plag, Dream Syndicate und Hüsker Du im Laufe der lahre an Glanz verloren, begann der Stern von R.E.M. immer heller zu leuchten. „Ich weiß nicht, warum ausgerechnet wir es geschafft haben“, rätselt Mills. „Es ist eine merkwürdige Allegorie, aber vielleicht kannst du es mit Schildkröteneiern vergleichen. Von den 50 Kiern, die Mama Schildkröte legt, überleben am Ende nur zwei. Du brauchst verdammt viel Glück!“ Was Peter Buck nicht auf sich sitzen lassen mag: „Wir haben härter an uns gearbeitet als alle anderen“, protestiert er: „Black Flag verloren ihren Schwung, als sie zwei Jahre lang kein Album machen konnten. Dream Syndicate haben ihre personellen Umbesetzungen nicht verkraftet. Hüsker Du könnten heute groß sein. Nicht so groß wie wir, das ist klar. Aber wenn sie sich nicht getrennt hätten, könnten sie heute vor 2000, 3000 Leuten spielen.“

Könnte denn, so rein ins Blaue gesprochen, der Erfolg von R.E.M. nicht auch am Frontmann liegen? Daran, daß Black Flag zwar einen Henry Rollins und Hüsker Du einen Bob Mould, aber eben keinen Michael Stipe am Mikro stehen hatten? Jemand mit einer dermaßen verschränkten, enigmatischen Ausstrahlung, daß er schon zu Zeiten von „Fables Of The Reconstruction“ (1985) als Guru verehrt wurde und heute zu den angesehensten Akteuren der Popkultur gehört? In welchem Maße trägt das Phänomen R.E.M. die Züge des Charismatikers lohn Michael Stipe? Peter Buck wirft einen ersten Blick über den Rand seiner Sonnenbrille: „Das mußt du ihn schon selbst fragen.“

MICHAEL STIPE SCHÜTTELT LEICHT AMÜSIERT DEN KOPF: „OJE, DA mußt du vorsichtig sein. Peter ist Musiker, und Musiker sind schnell mal gekränkt, wenn’s um ihre Meriten geht. Aber um auf deine Frage zu antworten: Ich weiß heute noch nicht, was Charisma sein soll. Ich merke nur, daß sich die Menschen in meiner Nähe ändern. Drastisch ändern. Das war schon immer so, schon als ich noch ein Kind war.“ Mike Stipe, The Shining Light, nannte ihn seine Kindergärtnerin. Michael Stipe, der Rockstar, jedenfalls schlüpft erstmal aus seinen Turnschuhen und ordert Champagner beim Zimmerservice. Er hat den Habitus eines 28jährigen, und nur aus der Nähe betrachtet läßt sich erahnen, daß er zehn Jahre älter ist – wegen der grauen Bartstoppeln, die er sich hat stehen lassen. Gibt es Menschen, in deren Gegenwart er sich ändert? Drastisch? „Ich suche ja ständig danach, wer tut das nicht?“ sagt Stipe, während er sich wieder auf der Couch niederläßt und eine Natural American aus der grünen Schachtel fingert: „Ich dachte, William S. Burroughs wäre ein Mensch mit Aura. Ich habe ihn besucht, kurz vor seinem Tod. Aber er interessierte sich nur für seine Waffensammlung. Patti Smith dagegen ist ein sehr beeindruckender Mensch. Ihre Stärke wirkt sehr beruhigend auf mich. Und Vic Chesnutt. Vic ist ein Buddha. Hast du Feuer?“ Er inhaliert tief und fragt ausatmend: „Gefällt dir das Album?“ Ich … äh … also … schon… ich meine… „Das ist gut! Ich mag es, wenn die Leute danach mit offenem Mund dasitzen. Ich glaube, ‚New Adventures In Hi-Fi‘ war das Größte, was wir erreichen konnten. Und wir gingen an die Aufnahmen zu ‚Up‘ in der Hoffnung, etwas Gleichwertiges auf die Beine zu stellen. Gleichwertig oder besser. Ich glaube, wir haben es geschafft.“ Obwohl es diesmal ein Ohr weniger war, auf das sie sich verlassen konnten? „Ja, ich hätte nie gedacht, daß es die Gruppendynamik dermaßen ändern würde, eines der Mitglieder zu verlieren. Aber es ist passiert. Als Bill ging, dachten wir die ersten fünf Minuten darüber nach, ob wir aufhören sollten. Die nächsten fünf Minuten grübelten wir, ob wir wohl unter einem anderem Namen weitermachen könnten. Aber dann gingen wir endlich an die Arbeit. Nach dem Motto .anything goes‘. Es war verwirrend, es war frustrierend, es war verunsichernd, es war schwierig, und ziemlich lange redeten wir nicht einmal miteinander. Deswegen ist ,Walk Unafraid‘ mein Lieblingsstück auf dem Album. Es handelt davon, sich nicht zu fürchten. Keine Angst davor zu haben, hemmunglos traurig zu sein oder hemmungslos romantisch. Nicht vor der Herausforderung zu kapitulieren, all jenes in die Texte einzubringen, was mich wirklich beschäftigt.“

Der Page tritt mit zwei Champagnergläsern ins Zimmer, und Stipe trinkt auf „das schöne Leben, das wir fuhren.“ In Los Angeles, New York oder Athens? „Trotz meinen Häusern in L.A. und Manhattan ist meine Heimat immer noch Athens“, betont Stipe und stellt das Glas ab, „obwohl ich das letzte Jahr die meiste Zeit in London verbracht habe. Wenn ich’s recht bedenke, verbringe ich mein ganzes Leben auf Reisen.“ Entstehen R.E.M.-Texte etwa unterwegs, in Hotelzimmern oder in Flughäfen?

„Nein, leider nicht. Ich glaube nicht einmal, daß ich ein Schreiber bin. Ich könnte weder eine Autobiographie, noch einen Roman oder ein Drehbuch verfassen. Manchmal fühle ich mich beim Schreiben, als würde mir jemand mit einem Eislöffel das Fleisch abschälen, Stück für Stück, um es schließlich vor mir auf den Tisch zu legen. Die Asche seiner Zigarette fällt unbeachtet auf den Teppich. „Am schlimmsten aber ist die Schreibblockade. Es kann passieren, daß ich die ganze Nacht nach einem einzigen Wort suche, dem richtigen Wort. Manchmal muß ich einfach nur weg von meinem Tisch, auf dem sich die Wörter in all diesen Büchern verstecken. Dort liegt die Bibel, das I Ching, die ‚Illustrierte Weltgeschichte der Religionen‘, Rimbaud, Keats, Shelley – aber ich muß aufstehen und tanzen. Ich tanze, alleine in meinem Haus mit meinen Hunden. Ich sehe aus wie ein Idiot, aber ich tanze. Manchmal hilft Auto fahren. Manchmal trinke ich kannenweise Kaffee, um mich in einen hypernervösen Zustand zu versetzen. Manchmal gehe ich aufs Klo. Manchmal betrinke ich mich. Manchmal gehe ich aus und lasse mich flachlegen. Aber manchmal kommt mitten in der Nacht diese eine Zeile, und ich schreibe sie nieder. Am Ende liegt nach all der Qual ein Song wie ,Hope‘ vor mir und ich weiß: Das ist es, was ich wollte, genau das. Und mehr. Ein wirkliches Gefühl. Seele. Du findest in der heutigen Musik selten jemanden, der wirklich hinter dem steht, was er tut.“ Stipe bemerkt, daß die Zigarette zwischen seinen Fingern erloschen ist und legt sie in den Aschenbecher. Er lehnt sich zurück und seufzt: „Es regiert ein solches Mittelmaß …“

Das klingt fast ein wenig gallig, doch Michael Stipe ist es emst mit der Qualität. Und weil das so ist legt er an sich selbst die höchsten Meßlatten an. Schließlich hat er jahrelang nicht einmal deutlich gesungen, weil er der Wirkung seiner eigenen Lyrics nicht vertraute. Gibt es denn niemandem, der ihm zumindest mit Rat beiseite steht? „Vic Chesnutt, Björk oder Madonna mit ihrer letzten Platte das sind Leute, die mich herausfordern und auf ihre Weise ermutigen. Aber auch Kollegen, die mich anrufen, um mir Tips zu geben. Thom Yorke, Patti Smith. Kennst du die Band Faithless? Jamie, der Gitarrist, ist ein unglaublich Süßer. Und ein Dutzend anderer Leute, die niemand kennt, ohne deren Hilfe und Vorbild ich kein einziges Wort zu Papier brächte.“

Zum erstenmal in der Geschichte von R.E.M. sind die Lyrics abgedruckt. Ein Schritt der Veräußerung, vor dem Stipe sich bisher immer sträubte: “ Meine Texte muß man hören, sie sind nicht fürs Lesen bestimmt. Gelesen wirken sie oft flach. Ich bin kein Poet. Ich habe immer Angst, daß man mich zu wörtlich nimmt. Das ist natürlich Quatsch. Herman Melville ist auch nicht in den Rachen eines Wales gestiegen, um ,Moby Dick‘ zu schreiben. Mike und Peter versuchten mich jedesmal zu überreden, die Texte abzudrucken – diesmal hatte ich genug Selbstvertrauen. Wenn es auf ,Up‘ ein Thema gibt, das sich wie ein roter Faden durch alle Songs zieht, dann ist es die populäre Geisteskrankheit unseres Jahrhunderts: dieses antagonistische, polarisierende Denken. Polarität! Ja, Pole, zwischen denen man sich angeblich entscheiden muß. Schwarz und weiß. Wissenschaft und Spiritualität. Gut und böse. Schwul und hetero. Du bist entweder Christ oder Atheist, das heißt, du kommt entweder in den Himmel oder in die Hölle. Und so geht das immer weiter und weiter. Dazwischen gibt es nichts. Wir sind gefangen in Denkmustern, die uns die Luft abschnüren und die Freiheit nehmen, die wir verdienen.“ Selbst wenn er sich, wie jetzt, in Rage geredet hat, spricht Stipe in seinem weichen Südstaaten-Akzent und verschleppt die Vokale. Zwar keinen Deut lauter als zuvor, doch sucht er länger nach Worten: „Diese stupide Gegensätzlichkeit fuhrt uns in ein Dilemma, aus dem es kein Entrinnen gibt. Spannnend ist es dort, wo Wissenschaft und Spiritualität sich überschneiden. Denn nichts auf dieser Welt kann für sich beanspruchen, die reine Wahrheit im Schilde zu fuhren! Physik ist ebenso angreifbar wie Glaube, jedwede Sexualität hat die Würde einer Religion, und Ethik ist genauso relativ wie …“ Wie Zeit, denn plötzlich steht Plattendame Sue Wildish im Türrahmen, klatscht in die Hände wie eine Gouvernante und flötet: „Es ist Zeit, Jungs.“ Michael Stipe fährt sich mit beiden Händen über die Glatze, wirft seine Zigaretten in den Rucksack, zieht seine Turnschuhe wieder an und steht auf. Er ist überraschend klein. „Alles in Ordnung?“ erkundigt sich Sue mit besorgtem Blick bei ihrem Künstler.

„Polarität“, sagt Stipe trocken, „das ist das Wort, nach dem ich seit vier Tagen gesucht habe. Plötzlich war es da.“