Reggae Sunsplash


Atemberaubende Sonnenaufgänge sind die Spezialität des jamaikanischen Reggae Sunsplash. Und gleich viermal erlebten die zigtausend Besucher, die zur diesjährigen Mammutveranstaltung in die Touristenstadt Montego Bay gepilgert waren, wie sich der feuerrote Ball gegen sechs Uhr morgens am Horizont auf der Halbinsel Freetown über dem Meer in Szene setzte. Wahre Prachtexemplare des Naturschauspiels, von dem das Festival seinen Namen erhielt.

Zum zehntenmal fand das Sunsplash dieses Jahr statt, gleichzeitig feierten die Jamaikaner ihren 25. Unabhängigkeitstag und den 100. Geburtstag des jamaikanischen Nationalhelden Marcus Garvey. Zu diesem Dreifach-Jubiläum hatten sich die Veranstalter des Sunsplash für die 200 Journalisten aus aller Welt einen besonderen Beitrag zur Völkerverständigung ausgedacht: Das Presse-Areal lag diesmal buchstäblich backstage, sprich hinter der Bühne. Wer also nicht nur tanzende Künstlerfüße von hinten bewundern wollte, der mußte sich in die von Ganja-Wolken umnebelte Menge zwängen. Und die Jamaikaner lieben hautnahe Tuchfühlung über alles…

Als Stars des Auftakt-Abends wurden nach einigen lokalen Berühmtheiten Marley-Witwe Rita und ihre beiden Mitstreiterinnen Jody Mowatt und Marcia Griffith gefeiert. Die I-Threes boten jedoch nur biederen Hausfrauen-Reggae, dem auch die halbherzig vorgetragenen Coverversionen von Werken des großen Meisters nicht auf die Beine helfen konnten. Erst Burning Spears stahlharte Reggae-Attakken ließen im Morgengrauen die aufkommende Müdigkeit verfliegen. Und bevor Dennis Brown als Schlußlicht zu seiner von vielen langersehnten „Lover-Session“ ansetzte, gab „Diamantenzahn“ Big Youth einen Vorgeschmack auf die Dance-Hall-Klänge am folgenden Abend.

In der zweiten Nacht war dann auf dem Platz des „Bob Marley Performing Centres“ der Teufel los. Über 40000 vorwiegend einheimische Fans drängten sich auf dem durch den täglichen Regen aufgeweichten Sandplatz. Seit die Konzerte der internationalen Stars durch den schlechten Stand der eigenen Währung für die Jamaikaner schier unerschwinglich wurden, hat die Popularität der einheimischen DJs. die mit ihren Sound Systems über die Dörfer ziehen, beträchtlich zugenommen. So konnten sich denn die wie gelackte Gockel auf der Bühne umherstelzenden Lokal-Größen wie Admiral Bailey, General Stitchie und Leroy Smart einer überschwenglichen Publikumsreaktion sicher sein — ganz egal, was sie an politischen Wortrempeleien und platten Anzüglichkeiten in breitem Patois von sich gaben.

Star dieser Mammutsession war Yellowman. Der Meister der Zote kümmerte sich einen Dreck um seine operationsbedingten Gesichtsentstellungen und Behinderungen und beschritt in seiner goldschimmernden Robe die Bühnenbretter just in dem Moment, da die Morgensonne die diamantbesetzte Krone auf seinem Albino-Haupte voll zur Geltung brachte. Yellowmans Stimme hat zwar (seit einer KTebserkrankung) etwas an Volumen eingebüßt, klingt aber immer noch erstaunlich rauh und kräftig. Innerhalb von 20 Minuten zielte der König der DJs treffsicher mit Worten und Gesten auf alle, die an diesem Abend vor ihm aufgetreten waren.

Ruhiger ging’s in der dritten Nacht zu, die abgesehen von einer packenden Vorstellung des Dubpoeten Mutabaruka dem musikalischen Grenzgänger Freddie McGregor gehörte. Und das nicht nur, weil er durch seine gute Plazierung in den britischen Charts mit dem Oldie „Don’t Wanna Be Lonley“ einen gewissen Punktevorsprung vor den anderen hatte. Freddies schmeichelnd rauher Gesang, seine clevere Art, die Reggae-Roots mit Jazz, Soul und Pop zu vermischen, trugen ihm verdientermaßen großen Jubel ein. Nur Steel Pulse, die mit ihren großstädtischen Reggaeklängen direkt vor den Sunsplash-Veteranen Third World die Morgensonne begrüßten, bekamen das Publikum noch einmal derart in den Griff.

Der letzte Abend hielt ein Gemischtwarenangebot parat — mit den Japanern Sandi & Sunsetz und der amerikanischen Popsoul-Lady Gwen Guthrie als Exoten. Die beleibte Gwen, die in Jamaika mit „Nothing But The Rent“ die Charts erklomm, ließ sich in ihrer Version des ,.Redemption Song“ von zwei als Engeln verkleideten Beaus gesanglich unterstützen. Zu fortgeschrittener Morgenstunde wogte der Platz endlich unter dem Roots-Reggae von Bunny Wailer. Und nach einem siegreichen Solo-Feldzug besiegelten schließlich Sly & Robby gemeinsam mit Half Pint am frühen Sonntagnachmittag den Ausklang dieses zehnten Reggae Sunsplash.