Cruel Britannia

Tief eingegraben ins kollektive Gedächtnis hat sich der Mythos Swinging London. Ein in lila Plüschsamt ausgelegtes Fantasieland, das bevölkert wird durch trendy gekleidete Hipster, die sich im archaischen Rhythmus ekstatischer Beat-Musik zwischen zahllosen Boutiquen der Carnaby Street und den legendären Nightspots Marquee, Revolution und Speakeasy bewegen. Dass die Realität vor vier Dekaden durchaus zurcTristesse neigte, zeigen exemplarisch zwei Spielfilme, die just zu jener Zeit entstanden, up the junction (Paramount Home Entertainment, 4) präsentiert die Kehrseite der durch die Beat-Generation propagierten grenzenlosen Freiheit. Schon 1965 adaptierte Regisseur Ken Loach die 1963 veröffentlichte Novelle von Neil Dunn fürs Fernsehen. Zwei Jahre später wurde der soziale Sprengstoff von Regisseur Peter Collinson und Drehbuchautor Roger Smith als Kinofilm inszeniert. Polly Dean, großartig porträtiert von Suzy Kendall, langweilt ihre privilegierte Existenz im noblen Londoner Stadtteil Chelsea.Selbstbewusst tauscht sie ihren schicken Designer-Hosenanzug gegen einen Minirock, um als Arbeiterin in einer Süßwarenfabrik in Battersea anzuheuern. Dort begegnet sie den gleichaltrigen Kolleginnen Rübe (Adrienne Posta) und Sylvie (Maureen Lippman) sowie Junk-Shop-Assistent Peter, gespielt von der britischen TV-Legende Dennis Waterman, den sie verführt. Schnell wird ihr klar, dass sich alle nichts sehnlicher wünschen, als die soziale Leiter aufzusteigen. Bald erlebt Polly die dunklen Seiten ihres abenteuerlichen Ausbruchs aus der Bourgeoisie, und ein Happy End gibt es nicht. Dafür gepfefferte Dialoge, überzeugende Mimen und einen fantastisch stimmigen Soundtrack von Manfred Mann. Einen gänzlich anderen, nichtsdestotrotz das Idyll Swinging London entlarvenden Ansatz verfolgte Regisseur Peter Watkins in der Pop-Polit-Satire privilege (New Yorker Video, 4). In einem fiktiven Großbritannien regiert schleichender faschistischer Totalitarismus. In seiner gewalttätigen Bühnenshow spiegelt der messianische Pop-Star Steven Shorter, grandios dargestellt von Ex-Manfred-Mann-Frontmann Paul Jones, diese gesellschaftliche Situation wider: In Handschellen kauert er in einer Gefängniszelle, umgeben von Prälaten und Uniformierten, die ihn, während er seine Hymne „Set Me Free“ singt, blutig schlagen. Doch Shorter fungiert als Marionette des Systems, am Reißbrett ersonnen, um die junge Bevölkerung von der Politik abzulenken und Unzufriedenheit zu kompensieren. In Jesus-Christus-Pose prangt Shorter von Häuserwänden, im Radio spielen nur noch seine Platten ¿ eine Kunstfigur, deren hermetisch abgeriegeltes Leben zum Vorbild aller avanciert. Erste Risse bekommt seine Existenz, als er der Malerin Vanessa (Jean Shrimpton) begegnet. Eine zentrale Rolle spielt auch der von Mike Leander konzipierte Soundtrack. Pattie Smith coverte „Set Me Free“, Big Audio Dynamite sampelten Dialoge, und David Bowie fühlte sich durch Steven Shorter zu seinem Meilenstein the rise and fall of ziggy stardust inspiriert. Es entbehrt nicht einer gewissen Ironie, mehr als vier Dekaden später eine Welt zu erleben, in der täglicher Klatsch und überdie Maßen praktizierte Celebrity-Verehrung eine wichtige Funktion in der sozialen Hygiene übernommen haben -ganz wie es privilege vorausgesehen hat.

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