Einstürzende Neubauten – Vier Re-Releases und ein Live-Album :: Hör mit Schmerzen

Stahlplatten, Flex und Presslufthammer, unanhörbare Musik, aber wichtig, irgendwie, Kultur, Goethe-Institut – ein paar Eckdaten in Sachen Einstürzende Neubauten hat jeder parat, aber die Schere zwischen Klischees und Kenntnis des Werks klafft wohl bei wenigen Bands weiter als bei Blixa Bargelds Noise-Avantgardisten. Vielleicht um diesem Missstand abzuhelfen und weil deutsche 80er-Untergrundmusik gerade Konjunktur hat, veröffentlicht Potomak jetzt vier der fünf „klassischen“ Neubauten-Studioalben der Achtziger neu, remastered in hübsch aufgemachten Falt-Digipacks. Nicht im Reigen enthalten ist das weiterhin auf Alfred Hilsbergs ZickZack-Label erhältliche Debüt KOLLAPS von 1981. Auf diese bewusst als „unhörbare Platte “ (FM Einheit) angelegte Attacke folgte 1983 ZEICHNUNGEN DES PATIENTEN O.T. 4,5 Sterne. Produzent Jon Caffery verlieh den Lärmkaskaden und psychotischen Wallungen aus Schrott-Schlagwerk, Tonbandverspulereien und pulsendem, gern auch mit der Bohrmaschine bearbeitetem Bass eine Transparenz, die sie nur noch verstörender macht. Ein grandios klaustrophobisches, zutiefst depressives Inferno – und mittendrin Blixa Bargeld, der zwischen schamanischem Fieberwahn und manischem Schreikrampf seine improvisierten Texte von Krankheit und Verfall herauswürgt und -kreischt (seine Alien-Schreie sind ein Ereignis für sich, man höre „Armenia“). Musik, bei der einem Viecher über die Haut krabbeln und die definitiv aufs Gemüt geht, vielleicht – siehe oben – die Klischeeplatte der Neubauten. Mit dem surrealistischen Albtraum „DNS Wasserturm“ enthält der Re-Release nur einen der Tracks der 12″, die ’83 der Auslandspressung beigelegt war, dazu die Raritäten „Wardrobe“ und „Blutvergiftung“.

Im Vergleich mit O.T. geradezu, ähem, poppig ist 1/2 MENSCH, 5 Sterne, von 1985. Stilbildend für alles, was da bis heute darkwavig-industriell dröhnt und rattert, markiert das von Gareth Jones (Depeche Mode) produzierte Album einen Entwicklungsschritt: Das infernale Chaos ist einem roh strukturierten, mithin tanzbaren („Yü-Gung“) Sound gewichen, neben nervenzerfasernd schabenden Metallplatten und klirrenden Ketten hämmern Sepuencer und sägen Synthesizer. Bargeld ist nicht mehr das nihilistische Häuflein zuckenden Fleisches, sondern präsentiert sich als Thin Black Duke zwischen Speed-(Größen)wahn („Yü-Gung“, „Z.N.S.“), schwarzem Humor (die Rammstein-Blaupause „Trinklied“) und Todessehnsucht („Der Tod ist ein Dandy“). Der Re-Release enthält neben Adrian Sherwoods „Yü-Gung“-Mix die schon auf der ’85er-CD enthaltenen Bonustracks „Das Schaben“ und eine abgründige Version von Lee Hazelwoods „Sand“. Hazelwood? Für eingefleischte Fans sollte es noch seltsamer kommen: Das Country-Cover „Morning Dew“ – Alex Hackes Slidegitarre inklusive – ist das wohl auffälligste Stück auf FUENF AUF DER NACH OBEN OFFENEN RICHTERSKALA, 4 Sterne, von 1987, das die Neubauten in leichter Desorientierung zeigt: Hofiert vom etablierten Kulturbetrieb und konfrontiert mit Vorwürfen ihrer alten Punk-Klientel, wand sich die Band, die „Kein Bestandteil sein“ (Songtitel) wollte, zwischen den Stühlen. Wieder von Gareth Jones produziert, kommt das Album weit konventioneller daher als 1/2 MENSCH, die Lärmausbrüche sind kontrollierter, und Bargeld kehrt in zunehmend ausgefeilten Texten immer mehr den scharfzüngigen Intellektuellen raus. Das bis dato zugänglichste und, ja wirklich, leiseste Neubauten-Album.

Wieder beherzter scheppernd ging es zwei Jahre später zwar auf Teilen von HAUS DER LUEGE, 3,5 Sterne, ans Werk, ansonsten bezeichnet das Album den Übergang von einer Atmosphäre der Destruktion zur quasiromantischen Ästhetisierung, die in den 90ern folgen sollte. Auf den „Prolog“, Bargelds Antwort auf nicht verstummende Ausverkauf-Anwürfe, folgen das tanzbar ratternde „Feurio!“ (zwei Remixes auf dem Re-Release) und das Titelstück mit der denkwürdigen Zeile Gott hat sich erschossen“, bevor die etwas planlose Trilogie „Fiat Lux“ und „Der Kuss“ einen anderen Ton anschlagen. Nicht das kohärenteste Neubauten-Album, eine kreative Ausgelaugtheit war spürbar: Am Ende der Dekade, am Ende der Teilung Deutschlands brach auch für die Neubauten eine neue Ära an, nachzuhören auf dem parallel zu den Re-Releases veröffentlichten Live-Album 9-15-2000, BRUSSELS, 4 Sterne, Stahlplatten, Flex und Presslufthammer spielen darauf nur mehr untergeordnete Rollen.

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