Joan Armatrading – Walk Under Ladders

Die zweite Seite spiele ich immer zuerst, denn sie führt mich jedesmal vom ersten Takt an über einen großartig konstruierten Spannungsbogen in eine Art euphorischen Hörrausch. .No Love“, der Song, der in einer frühen Version auf die ME-Folie in Heft 5/81 gepreßt wurde: Über zwei Strophen hinweg wird der Titel mit Stimme, glasklarer G itarre und sattem Baß aufgeladen, und dann bricht plötzlich Mel Collins mit einem grandiosen Saxophonsolo über uns herein und wir sind mittendrin im Breitwand-Sound nach bester Springsteen-Tradition.

Allerdings ist diese Spritztour nach New Jersey nicht der Kern der neuen Platte von Joan Armatrading. WALK UNDER LADDERS wurde produziert von Steve Lillywhite, und in diesem Namen steckt das Konzept. Lillywhite hat mit Peter Gabriel, Ultravox, XTC, Siouxsie & The Banshees gearbeitet, und da Joan Armatrading den „frischen Wind“ einfangen wollte, der seit geraumer Zeit in England weht, entsprach er ihren Vorstellungen wohl besser als Richard Gottehrer, mit dem sie zunächst arbeiten wollte. Ein New Wave-Album hat sie gleichwohl nicht aufgenommen, sondern gestaltet in einem veränderten Rahmen ihren ureigenen Stil, der in keine Schublade paßt, sich aber offenbar mit fast allen Rockspielarten vermählen läßt.

„At The Hop“, Track 2 der zweiten Seite, bringt archaische Rhythm & Blues- und Rock & Roll-Anklange, verbunden mit einer gehörigen Portion New Wave-Schärfe. „I Can’t Lie To Myself“ mischt Reggae, New Wave und das verhaltene Seeleniieber der Joan Armatrading mit überwältigender Intensität und Dichte. Für mich ist dies der beste Song des Albums, ein Song, der Mainstream-Rock der frühen 80er Jahre geradezu definiert. Ein weiteres beeindruckendes Stück Fusionsmusik beschließt das Album: „Only One“, ein sensibüisierendes Liebeslied mit ganz einfachen, zärtlichen Worten, die in einen komplexen, jazznahen Instrumentalpart eingebettet wurden. Ein verfremdeter Baß dröhnt wie bei Weather Report, eine Synthesizer-Linie verliert sich irgendwo in der Ferne, im Vordergrund schwebt sanft und voller Persönlichkeit Joans Stimme. . Eine geglückte Synthese und eine aufredende Synthese, diese zweite Seite. Die erste entfaltet sich im gleichen Milieu, nur werden zuweilen die New Wave-Elemente deutlicher in den Vordergrund geschoben. Programmatisch erklingt bereits am Anfang des Albums ein Synthesizer-Thema, das ein wenig an ein Renaissance-Madrigal erinnert.

Der Sprung weg von der gewohnten Basis, von Rhythm & Blues und kanbischer Musik, ist sehr weit ausgefallen, doch Joan Armatrading konntesicher landen. Allerdings erst im zweiten Anlauf: Nachdem sie WALK UNDER LADDERS in New York bereits weitgehend fertiggestellt hatte und im Frühsommer veröffentlichen wollte, reiste sie im Juli plötzlich nach London zurück und fing dort noch einmal von vorne an. Auch die Idee, fast alle Instrumente allein zu spielen (siehe ME 5/81), gab sie wieder auf zugunsten einer festen Band plus Gästen, darunter Sly Dunbar und Robbie Shakespeare („I Can’t Lie…“), Andy Partridge von XTC, Rico und Dick Cuthell von den Specials. Die Texte der Platte wurden wiederum aus dem weiten Feld der zwischenmenschlichen Beziehungen entwickelt, sind zum Teil sehr persönlich und überraschen oft durch ausgefallene Blickwinkel. Daß die Texte auf die Innenhülle gedruckt wurden, rundet die Qualität dieses Albums ab. Ich halte es für eines der besten im laufenden Jahr.