Joy Division – Heart And Soul

Bei einer Band, die zu ihren „Lebzeiten‘ gerade mal zwei Alben und eine Handvolt Singles veröffentlicht hat, scheint bei der Veröffentlichung eines opulenten 4-CD-Box-Sets Skepsis geboten. Doch im Falle von Joy Division ist diese Werkschau nicht nur gerechtfertigt, sondern längst überfällig. Die düsteren Post-Punk-Pioniere aus Manchester schufen ungewöhnlich neue Tone, die ans Soundgemisch einer Werkshalle erinnerten: Klinisch-kalte Klänge und melancholisch-deprimierende Prä-Goth-Soundwände gingen bei Joy Division eine heilige Allianz ein. Ein Stil, der sich nicht zuletzt auch an den auf der Insel kultisch verehrten Kraut-Rock-Acts Can, Amon Düül II und Faust orientierte. Der mittlerweile zur Legende verklärte Joy Division-Sänger lan Curtis bündelte in seiner gespaltenen, resignierten Persönlichkeit die kollektive unbewußte Faszination fürs Makabre und Morbide. Nicht nur die Wave-Fans der frühen Stunde, sondern gleich mehrere Musikergenerationen fühlten sich davon wie magisch angezogen. Nach Curtis‘ tragischem Tod schuf die in New Order umbenannte Restcrew plus Neumitglied Gillian Gilbert 1983 mit dem Neo-Disco-Industrial-Beat von „Blue Monday“ nicht nur die weltweit bestverkaufte britische 12 Inch-Single aller Zeiten, sondern wurde mit diversen Longplayern zur wichtigsten britischen Band der Post-Wave-Generation. Die oft geäußerte These, Joy Division taugten nur als Fußnote in New Orders History, trifft nicht zu. Ganz im Gegenteil. Erst der innovative Sound von Joy Division, das Genie Curtis und dessen Tod haben den kommerziell erfolgreichen Indie-Dance-Crossover von New Order erst möglich gemacht. Mehr als jede andere vergleichbare Formation aus Großbritannien fungierte die Divison der Freude als Schnittstelle zwischen Vergangenheit und Zukunft. Nicht nur das: die Band bekannte sich -trotz einer in ihrer Ära extrem stark durch die repressive Politik der rechten Upper Class geschwächten Labour Party- vehement zu ihrer Working Class-Herkunft. Nährboden für diese (über)lebenswichtige Ideologie bot ihre Heimatstadt Manchester reichlich,jener Industriemoloch im von den snobistischen Südengländern verächtlich „Black Country“getauften trostlosen Flecken Mittelengland. Die Nachwehen aus der spätviktorianischen Zeit, die sich noch heute in permanent hohen Arbeitslosenquoten, Armut, Lebensüberdruß, sowie Drogenund Alkoholkonsum äußern, flössen metaphernreich und poetisch in Curtis‘ Kompositionen ein. Als letzte essentielle Band der alten Garde (Velvet Underground, Doors, Stooges, Sex Pistols), aber auch als früher Bote der neuen Helden (Pixies, Nirvana, Nine Inch Nails, Smashing Pumpkins, Radiohead), gebührt dem Missing Link Joy Division in der Ruhmeshalle des Rock ein Ehrenplatz. Ihre Integrität bewiesen die Musiker mit ihrem offiziellen Output zwar allemal, doch mit HEART AND SOUL werden in Klang, Wort und Bild nun auch die feineren Nuancen nachgezeichnet. Beteiligt an der ursprünglich „Existence“ betitelten, 80 Tracks starken Retrospektive waren neben Bandbiograph Jon Savage alle verbliebenen Band-Mitglieder. Laut Peter Hook ist das Ergebnis „ein nahezu komplett ausgewerteter Studio- und Live-Katalog“. Ergänzt wird die Musik der beiden Alben UNKNOWN PLEASURES und CLOSER durch sämtliche 45er plus deren rare B-Seiten, zahlreiche Outtakes, einige Songs des Label-Samplers PALATINE: THE FACTORY STORY, BBC Radio-Versionen („1979:The Peel Sessions“), sowie die EPs „Ideal For Living“,“Earcom 2: Contradiction“, „Flexidisc“ und „Licht und Blindheit“. Mit der von lan Curtis gesungenen Urversion der ersten New-Order-Single „Ceremony“ bietet die Box zudem eine wegweisende, lange nicht mehr erhältliche Rarität. Die zahlreiche Live-Mitschnitte, etwa aus der Manchester Factory und dem Londoner Lyceum Ballroom auf HEART AND SOUL, bestätigen die euphorischen Konzertberichte der englischen Musikpresse der Jahre 1977 bis 1980. Die Demoaufnahmen der Joy Division-Vorläuferband Warsaw hingegen bleiben bis dato leider ebenso unveröffentlicht wie diverse erstaunliche Studiosessions, die Joy Division für die Labels RCA, Picadilly Radio und Genetic Records aufgenommen hatten.