Lou Reed – The Blue Mask

Ich weiß heute noch ganz genau, an welchem Wochentag ich wo zum erstenmal „I’m Waiting For My Man“ von Velvet Underground in Peter Zadeks Film «Ich bin ein Elefant, Madame“ zu hören bekam. Ich vergesse den Wintermorgen ’73 nicht, als ich in London das aus einer Oxford Street-Boutique schallende „Walk On The Wild Side“ als persönliche Aufforderung verstand. Oder anderthalb Jahre danach die Zeilen „You re so cold/you’re Alaska“ von dem Album BERLIN einer 18jahrigen Nachhilfeschülerin vorspielte, die mich nicht ranlassen wollte.

Gerade Lou Reed hat eine Bedeutung für mein eigenes, nicht repräsentatives Leben gehabt, die unabsehbar ist. Noch sein schlechtester Song sagt mir mehr als etwa das Gesamtwerk von Iggy Pop, dessen Musik ich nie mochte, allenfalls die Parolen, die er damit untermalte: Just wanna luck, don’t want no romance“.

THE BLUE MASK nun hat mein im Grunde (auch durch ein paar weniger gute LPs) nie angezweifeltes Vertrauen in das New Yorker Rock-Genie bis an mein Lebensende zementiert. Auf dem Cover sehe ich dasselbe Bild von Lou Reed wie vor knapp zehn Jahren auf TRANSFORMER, nunmehr jedoch in blau gehalten, was Assoziationen an blue movies (Porno-Filme) weckt.

Mindestens vier Songs kann ich vom Text her 5 000 Meilen von Coney Island entfernt – unterschreiben. Auch ,I love Women“ (Frauen wohlweislich groß geschrieben!), auch ich bin da unheilbar, weiß, wie man sich „Underneath The Bottle“ fühlt, nachdem man besoffen die Treppe runtergeflogen ist. Wie Lou Reed schätze ich mich als „Average Guy“ ein, als Durchschnittsmensch, bin .no Christian or no bom again saint“ geschweige den ein (promovierter) .“Marxist D.A.“ Genau erinnere auch ich mich noch an „The Day John Kennedy Died“, als ich allerdings nicht wie die Tante Lou in einer Bar rumlungerte, sondern die für mich damals schreckliche Nachricht als Zehnjähriger an jenem Freitag im November ’63 aus dem Munde von „heute“ -Sprecher Wolfgang Behrens vernahm.

Überhaupt durchzieht THE BLUE MASK ein Gefühl von Aufbereitung der eigenen Vergangenheit, mit der sich ein Großteil der Leute identifizieren kann, die in den ersten zehn Jahren nach dem 2. Weltkrieg geboren sind.

Für Lou Reed heißt das, daß „The Heroine“ wieder großen läßt und der von ihm geliebte, vor gut 15 Jahren verstorbene Poet Delmore Schwartz in „My House“ mit einer Anspielung auf James Joyce erneut geehrt wird:

„My Dedalus to Your Bloom was such a wit“ – jener Delmore Schwartz, der meinte, in den Träumen begänne die Verantwortung.

„The Gun“ ist ein Abgesang auf das fast schon apokalyptisch zu nennende gewalttätige Klima einer untergehenden Stadt. Lou Reed setzt ihm als (ästhetische) Kur ein epochales Album entgegen, dessen Schlüsselsong, das Titellied, alles enthält, was man heute mit zwei Gitarren (er selbst und Robert Quine), einem Bass (Fernando Saunders, der auch die wenigen, doch zauberhaften background vocals beisteuert, sowie dem Schlagen und Streicheln von ein paar Trommeln und Becken (Doane Perry) an Rock’n’Roll liefern kann und sollte.

THE BLUE MASK wird schon jetzt allerorten als Meisterwerk gefeiert. Vollkommen zurecht. Ein Meilenstein – der wohl erste und vielleicht letzte der 80er Jahre, der uns zeigt, wie weit wir in den letzten 25 Jahren gegangen sind, und wo wir jetzt stehen. Er gibt uns Kraft, durchzuhalten; aber wie lange wir noch weitermachen müssen, steht nicht drauf.

Lou Reeds nunmehr vorgelegtes opus magnum beginnt am Ende denn auch so: „Heavenly Arms (Songtitel) reach out to hold me/ Heavenly Arms entice you to dance/In a World of ill will/the dancers are still ill“…“