Manic Street Preachers :: London, O2 Arena, 17. Dezember 2011

Unter Stroboskop-Gewittern: Die Manic Street Preachers spielen bei einem triumphalen Konzert alle ihre 38 Singles in 3 Stunden und mit 1 Bassgitarre als Opfer.

Er lässt die Arme kreisen, verzieht das Gesicht, reibt sich die Schulter. Dann setzt er sich, den Bass umgehängt, auf das Podest des Schlagzeugs, streift die Schuhe ab – und spielt weiter. Nicky Wire sieht, irgendwann nach Song 27, „Revol“, und zweieinhalb Stunden Spielzeit, ziemlich fertig aus. „Dass ich mir nun auch noch den Arm verrenke, war ja klar“, sagt Wire ins Publikum.  Doch er lacht. „Ich hätte es mit Pilates oder Yoga probieren sollen – wie Coldplay es tun“.

Dies ist einer jener genialischen Momente, in denen die Manic Street Preachers zeigen, dass sie zwei Welten vereinen können. Arbeiter zu sein, stundenlang zu arbeiten, Working Class, und dabei dennoch eine astreine Punk-Haltung zelebrieren, in der Schweiss keine Rolle spielen soll, sondern man einfach in jeder Situation Nonchalance beweist – und noch genug Puste übrig hat um über andere Bands zynische Urteile zu fällen. Oder sie mit runter zu reißen, wenn nichts mehr geht. Den Bass wird Wire an diesem Abend noch weiter spielen. Für elf zusätzliche Stücke. Nach 38 Liedern und über drei Stunden verlassen die Manic Street Preachers die Bühne. Sie haben dann alle ihre Singles aufgeführt, alle von 1991 bis 2011, eine einmalige Darbietung, die einer zweijährigen Auszeit vorauseilt. Und die, wie Wire im Interview sagte, nichts mit seiner Enttäuschung über den kommerziellen Misserfolg der drei Singles ihres jüngsten Studioalbums „Postcards from a Young Man“ zu tun habe – dem „Last Shot At Mass Communication“, der, gemessen an Chartplatzierungen, fehl geschlagen ist.

Ihr Auftritt in der ausverkauften Londoner O2-Arena – mit 20.000 Plätzen eines der größten Konzerte, die die Manics je gaben – ist ein Triumph. Mehrfach. Zum einen gelingt es Wire,  Sänger und Gitarrist James Dean Bradfield, Schlagzeuger Sean Moore sowie den zwei zusätzlichen Musikern an Gitarre und Keyboard, über die volle Dauer des Konzerts – den ausgerenkten Arm vergessen wir jetzt mal – jedes Stück so energetisch zu spielen, als sei es ein Opener. Das war nicht garantiert. Nicky Wire sagte, die Band habe das volle Set lediglich zweimal geprobt. Länger als zwei Stunden standen sie noch nie auf der Bühne. Und dann sollte alles klingen wie frisch poliert: Das Höchstmaß an Konzentration gilt für Song Eins, „You Stole The Sun From My Heart“ genauso wie für Song 37, „Motown Junk“.

Der Triumph der Manic Street Preachers zeigt sich auch in der Sorgfalt ihrer Darbietung, der Wertschätzung also des Single-Formats. Singles sind auch live in jeder Hinsicht etwas Spezielles. Noch stärkerals reguläre Albentracks können sie für den Zuhörer ein Angebot sein: sich an ihnen zu stören oder sie noch mehr zu lieben, weil sie so bekannt sind; weil sie als Auskopplung gefloppt sind; weil keiner mitsingt; weil zu viele mitsingen; weil sie gegenüber einem anderen Song als Single vorgezogen wurden; weil die Band ihr den Durchbruch verdankt; weil die Band mit ihr abgestiegen ist; weil die Band zu wenige spielt; weil sie nur noch Singles spielt; weil die Band durch sie ein Imageproblem hat und sich ausverkauft; weil ihre Singles so gut sind wie Albumtracks; weil man gemeinsam oder in Abgrenzung zu den anderen Zuschauern pfeifen oder gröhlen kann, wenn sie intoniert werden. Singles lassen keinen Zuhörer kalt.  Sie sind kleine Marker, über die Fans sich definieren, aus Hingabe oder Abgrenzung. Und im Fall der Manic Street Preachers tragen diese Marker wunderschöne Melodien. Also: volle Konzentration bitte, von Minute eins bis 210. Denn die letzten Songs werden keine Rausschmeisser sein, keine Coverversionen, sondern drei der signifikantesten Stücke, die die Band je aufnahm.

Anders ausgedrückt: Wer nach 20 Songs keine Power mehr hat, läuft Gefahr die 19 weiteren Top-Singles zu versieben, darunter den obligatorischen Abschlusssong „A Design For Life“. Die Band macht da keine Fehler und geht dennoch ein dramaturgisches Risiko ein. Die einfache Variante wäre eine chronologische Darbietung gewesen, die ihre Entwicklung würdigt: Die Band klänge dann nacheinander wie Guns N’ Roses, The Clash, wie sehr gute Manic Street Preachers, wie Depeche Mode und dann erneut wie sehr gute Manic Street Preachers. Stattdessen mischen sie die Stücke – und das ist die richtige Entscheidung: Die Manics verwandeln sich von Lied zu Lied, zelebrieren Entwicklungen in Zeitraffer und kehren dann in Schallgeschwindigkeit zu ihren Ursprüngen zurück. Zwischendrin erklingen Trompeten, und man fühlt sich wie auf Kuba.

Die Stimme hält, die Töne sitzen auch, es gibt keine Rückkopplungen, Wire kann ja notfalls auch im Sitzen Seiten zupfen. James Dean Bradfield ist innerhalb der Liveband immer der Wackelkandidat, im wahrsten Sinne des Wortes. Weil er springt und sich oft vom Mikrofon abwendet, sobald er gleichzeitig singt und – das will er sich meist nicht nehmen lassen – die Leadgitarre spielt. An diesem Abend teilt er sich die Kondition ein, und vielleicht klang seine Stimme auch deshalb nie besser als bei „ Slash N’ Burn“ (Song 35, Spielzeit: 3 Stunden und etliche Minuten).

Bradfield betritt im Matrosenanzug die Bühne, Wire setzt sich die Kapitänsmütze auf. Ein Bild, das weniger etwas über Hierarchien aussagt als über den Wellengang, den beide steuern wollen, den Versuch, über 38 Songs die Kontrolle zu behalten; Stücke wie „Love’s Sweet Exile“ oder „She Is Suffering“, die die Band seit Jahren nicht mehr gespielt hat. Oder, um im Bild zu bleiben: Um das Schiff nicht kentern zu lassen. Aber es liegt keine Melancholie in der Luft, keine Abschiednahme. Selbst das Konzert-Intro, Bowies „Speed of Life“, ist hier weniger Statement zur Geschichte der Band als einfach ein Lied mit treibendem Beat. Die Ansagen sind Anekdoten zu den Songs – die Band umarmt sie alle. „Empty Souls“ aus dem von vielen Fans ungeliebten „Lifeblood“-Album sagt Wire als „Biest“ an; „You Love Us“ hatte, verkündet Bradfield, erst als Single die richtige Abmischung mit dem Hochgeschwindigkeits-Outro erhalten; „ The Everlasting“ ist der Song mit den „vielen, vielen verschiedenen Akkorden“; „Faster“ das „fucking masterpiece“ des verschollenen Gitarristen Richey Edwards, dem die Band zum Abschluss des Konzerts dafür danken wird, dass es ihn gab. Und „Faster“ ist auch der Song, den sie wohl nie wieder unter Stroboskop-Gewittern vor 20.000 Fans werden spielen können.

Die Exzentriker unter den Gaststars, die bisher mit dem Manics zusammen arbeiteten (Traci Lords als Sängerin bei „Little Baby Nothing“, Ian McCulloch bei „Some Kind Of Nothingness“) bleiben der Feier fern; dafür betreten Freunde die Bühne. Super-Furry-Animals-Frontmann Gruff Rhys singt und spielt Gitarre bei „Let Robeson Sing“ – Rhys sollte, wie Bradfield sagte, den Song ursprünglich bereits bei ihrem Konzert in Havanna 2001 begleiten.

Für „Your Love Alone Is Not Enough“ wiederum betritt Cardigans-Sängerin Nina Persson das Feld. „That Song gave us another life, a new shot of life“, sagt Bradfield über das Stück, das der Band 2007 ein kleines Comeback in den Charts bescherte. „ She came all along here from America!“. Als sie dort nun in London stand, fest am Boden neben Bradfield, wurde einem klar, wie sehr Persson der Musikwelt fehlt. Wie selten heutzutage ihre schöne Stimme zu hören ist. Was sie wohl macht die ganze Zeit? So ging es allen mehr als gut an diesem Abend, und die Fragen, die man sich stellte, waren gute.

Auch Nicky Wire ließ es sich gut gehen. Er zerschmettert seinen Bass – was ihm beim immerhin vierten Wurf auf den Boden gelingt. Und auch jene mit einer Federboa behängte Schaufensterpuppe, die seine Bühnenbegleiterin seit Jahren war, und die vielleicht so etwas sein soll wie ein narzisstischer Spiegel seiner Seele. Aber, wie gesagt, hier geht es nicht um Symbolcharakter. Zerstörung muss keinen Symbolcharakter haben. Es kann auch ganz einfach darum gehen, 38 tolle Songs zu spielen, manche vielleicht zum letzten Mal, und dann alles dem Erdboden gleich zu machen. Nicky Wire erklimmt seinen Bassverstärker. Nun steht er zirka drei Meter über der Bühne. Und lacht in die Menge. Bis das Licht ausgeht, und sein Job erledigt ist.