Marvin Gaye :: The Master 1961-84

Schon bei der Erstveröffentlichung vor fünf Jahren entpuppte sich The Master 1961-84 als bis dato beste und anschaulichste Retrospektive der Soul-Legende. Unbegreiflicherweise trug der begnadete Sänger und Komponist lebenslang einen unbewältigten Konflikt in sich: Der tief religiös ausgerichtete eine Teil fand mit dem triebhaften anderen Teil in Marvin Gayes Seele nie zum Einklang. Er zweifelte an allem, am meisten an sich selbst und seiner künstlerischen Integrität. Auch vom eigenen Erfolg, der sich bis zu seinem Tod im Jahr 1984 nahezu konstant hielt, schien er wenig überzeugt und beharrte darauf, dass dieser an seiner Ehe mit Anna Gordy, Tochter von Motown-Labelchef Berry Gordy, liegen müsse. Möglich, dass das Allroundtalent, das zum Karriereanfang gerne der „Schwarze Sinatra“ geworden wäre, Opfer seiner eigenen Gesinnung und Erziehung wurde: War es ihm, als Abkömmling eines tief gläubigen Pentacostel-Predigers, doch strengstens verboten, gegen die biblischen Zehn Gebote zu verstoßen, vor allem aber gegen den Familienpatriachen aufzubegehren. Und davon hatte der schon in den frühen 60-er Jahren mit zahlreichen Holland-Dozier-Holland-Hits wie „Stubborn Kind Of Fellow“, „How Sweet It Is (To Be Loved By You)“, „HitchHike“,“Can I Get A Witness“ oder „Ain’t That Peculiar“ gesegnete Entertainer mit dem samtweichen Tenor gleich zwei: seinen eigenen Vater und seinen allmächtigen Schwiegervater. Nicht nur einmal verlor Marvin Gaye die seelische Balance, äußerte Selbstmordgedanken und erging sich in übermäßigem Kokainkonsum. Für ein Jahr tauchte er unter, lebte unerkannt und dämmerte im Alkoholrausch vor sich hin. Das anschließende Comeback fiel dennoch glanzvoll aus: Schon 1967 war Gaye mit dem düsteren „I Heard It Through The Grapevine“ aus dem fröhlichen Motown-Hitkarussell ausgeschieden. Kurzweilige Soulständchen ließ er nun hinter sich und arbeitete mit dem Meilenstein WHAT’S GOING ON die katastrophalen Lebensumstände der schwarzen Ghettobevölkerung in den USA auf. Ein weiteres Meisterwerk gelang dem Prediger und Propheten nach dem eher verhalten aufgenommenen Soundtrack Trouble Man: Mit „Let’s Get It On“ nahm er sich ein weiteres Thema vor, das ihn persönlich beutelte – seine unmäßige Sucht nach sexuellen Ausschweifungen. Eine Duett-Kollaboration mit Diana Ross, sowie ein weiterer Longplayer, I WANT YOU, bestätigten, was längst bekannt war: Marvin Gaye gehörte zu den talentiertesten schwarzen Künstlern jener Ära. Das änderte sich auch nicht als die Ehe mit Gordys Tochter in die Binsen ging und mit dem 1977-er HERE MY DEAR die musikalische Abrechnung in Form eines hochwertigen Doppelalbums erschien – diese Glanzlichter nehmen einen Großteil der beiden letzten Silberlinge dieser Kollektion ein. Anschließend geriet Gayes Drogensucht zunehmend außer Kontrolle. Er kam zu spät zu Auftritten und ließ TV-Shows platzen. Der luxuriös lebende Multimillionär nahm sich erneut eine Auszeit, verkroch sich auf Hawaii in einem Trailer und versuchte sich mit einer Überdosis Koks das Leben zu nehmen. IN MY LIFETIME betonte Gayes Faible für afrikanische Roots und Reggae-es sollte der letzte Longplayer für Motown sein. Mit seinem neuem Vertragspartner CBS und dem zeitweiligem Exil im belgischen Ostende gelang ihm allerdings ein vielversprechender Neustart: Das Album MIDNIGHT LOVE entwickelte sich mitsamt der Erotik-Hymne „Sexual Healing“ zu einem internationalen Bestseller. Fast schon unheimlich und visionär tönt der letzte Song auf Silberling Nummer vier: Eine ergreifende, spontan gesungene Acappella-Version von „The Lord’s Prayer“ – eingespielt in einer belgischen Kirche während der Filmaufnahmen zur Dokumentation „Marvin Gaye: Transit Ostende“. Wenige Monate später, am 1. April 1984, einen Tag vor Marvins 45. Geburtstag, erschoss Gaye Senior seinen Sohn nach einer Auseinandersetzung im Elternhaus.

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