Nick Drake :: Fruit Tree
Wiederentdeckt und restauriert: die überirdisch schönen Folk-Oden eines weltfremden Tagträumers.
Was ein kleiner Werbespot für ein Cabriolet der Generation Golf so alles bewirken kann! Nach der ersten TV-Ausstrahlung im Frühjahr 2000 wird das Unternehmen in Wolfsburg zehntausendfach mit den immer gleichen Fragen konfrontiert: Wer denn der Interpret sei und wie diese unfassbar schöne Ode eigentlich heiße. Nick Drake, Urheber besagten Songs, hätte im Juni 2007 seinen 59. Geburtstag gefeiert, wäre er nicht 1974 an einer Überdosis Antidepressiva verstorben. Sein drittes und finales Album Pink moon, zwei Jahre zuvor veröffentlicht, verkaufte sich weltweit in nicht einmal 5000 Exemplaren. Die überraschende Trendwende erfolgte erst 26 Jahre später. Innerhalb weniger Wochen ließen sich dank der TV-Rotation Stückzahlen absetzen, von denen der ewige Geheimtipp zu Lebzeiten nur hätte träumen können. In Stoßzeiten verzeichnete der Internetanbieter Amazon Verkaufsrekorde, registrierte das Werk wochenlang an fünfter Stelle seiner Verkaufsliste. Auch Kult-Autor Nick Hornby erwähnte den jung verstorbenen Romantiker gleich mehrfach in seinen Bestsellern. Hollywood-Schauspieler Brad Pitt moderierte 2002 gar eine ganze Gedenksendung im Auftrag der BBC. Und 2004 platzierten sich dann unglaublicherweise gleich zwei Drake-Songs in den UK-Charts.
Posthumer Ruhm ist kein neues Phänomen. Doch zumeist tritt er bei populären Künstlern sofort nach deren Ableben auf, wenn sich durch das kollektive Verlustgefühl die Verkäufe in Millionenhöhe multiplizieren. Nick Drake hingegen fiel fast dem Vergessen anheim, doch 30 Sekunden Werbefilm genügten, um Tausende zum Kauf eines Albums zu animieren. Dabei wurde Drakes schmales Gesamtwerk seit Erstveröffentlichung schon häufiger unbeachtet auf Vinyl und CD auf den Markt gebracht.
Drake galt bereits zu Lebzeiten als ein von Misserfolg Gezeichneter – als sensibler „Loser“, dem die marktgerechte Selbstinszenierung komplett zuwider war. Selbst David Geffen, damals Chef des Asylum-Labels und bekannt für sein Faible, gestrauchelten Künstlerseelen neue Perspektiven zu eröffnen, zögerte zunächst. Als er dem scheuen Briten endlich einen Vertrag anbieten wollte, war es leider schon zu spät.
Für einen Künstler seiner Ära führte Nick Drake ein geradezu beunruhigend ruhiges Leben, weshalb sich der Personenkult, anders als bei Syd Barrett oder Brian Jones, bis heute in Grenzen hält. Biograf Patrick Humphries etwa enthüllte lediglich Umstände, die schon seit Jahren, wenn nicht gar Jahrzehnten durch Drakes Familie, insbesondere seine Schwester Gabrielle, sowie diverse Freunde und Bekannte publik geworden waren: Dass der hochgewachsene, attraktive Nick ein schweigsamer Einzelgänger war, dass er zu keiner festen Beziehung fähig war, zu viele Zigarretten konsumierte, gerne Haschisch rauchte, stundenlang selbstvergessen auf seiner Akustikgitarre übte und durch ungeschickten Umgang mit Alkohol und Halluzinogenen wohl jene Depressionen intensivierte, die ihm in seinen letzten Lebensjahren so viel Kraft rauben sollten.
Nick Drake kann noch nicht einmal mit profanen Dingen aufwarten, die bei jedem Durchschnittskünstler zum Paket gehören: Es gibt kein reichhaltiges Archiv, keine Kollaborationen mit berühmten Zeitgenossen, keine Affären und Pöbeleien im Rauschzustand. Übrig blieben einzig seine drei Alben FIVE LEAVES LEFT, BRYTER LATER Und PINK MOON. Posthum folgten die Raritäten-Kollektion Time of no reply, die Heim-Demo-Sammlung Family tree sowie das nun zum zweiten Mal aufgelegte, digital optimierte 3-CD-Set fruit tree.
Gerade erst 20 Jahre alt, entwirft der noch in Cambridge studierende Nick Drake im Gespann mit dem Produzenten Joe Boyd für das erstaunlich reife Debüt five leaves left 5 eine Songkollektion von visionärer Kraft: „River Man“ holt sich Inspiration von Claude Debussy. Drakes College-Kollege Robert Kirby kreiert in „Day Is Done“, „Way To Blue“, „Fruit Tree“ und „The Thoughts Of Mary Jane“ bezaubernde Streicher-Arrangements im Barock-Stil Händels. Begleitet von der halben Fairport-Convention-Besetzung, brilliert Drake vor allem mit atemberaubend filigraner Technik auf der Akustikgitarre.
Das ebenfalls von Boyd betreute Nachfolgealbum bryter later 4,5 unterscheidet sich vom Vorgänger durch eine lange Produktionsphase: Neun Monate werkelte Drake mit seinen Fairport-Freunden daran. Weniger Moll, mehr Dur – Kirbys jazzige Brass- und Streicher-Arrangements klingen eine ganze Ecke weniger versponnen, die rar eingesetzten Backingchöre von Pat Arnold und Doris Troy kraftvoll soulig. Höhepunkte sind „Northern Sky“, Drakes möglicherweise schönste Poesie in Noten, sowie das verzweifelt-kafkaeske „Fly“, beide einfühlsam arrangiert und begleitet von Velvet Underground John Cale.
Ausgerechnet das vergleichsweise spartanische pink moon 4 gilt als Favorit der weltweiten Fangemeinde. Mit einer Spieldauer von weniger als einer halbe Stunde entbehrt es auch die opulente Orchestration der Vorläufer. Abgesehen von einer sparsamen Pianofigur im Titeltrack, vertraute Drake ausschließlich auf sein rudimentäres Spiel auf der Akustikgitarre. Ein stark melancholischer Zug, eine fast schon verzweifelte Aura durchweht die elf Songs, die einen mit dem Abstand von drei Jahrzehnten glauben lassen möchten, Drake habe sein fatales Schicksal mein- als nur erahnt. „Place To Be“ enthält das herzzerreißende Flehen um Akzeptanz und einen Platz in einer gnadenlosen Welt, „Parasite“ thematisiert soziale Entfremdung im Moloch Großstadt. Das finale „From The Moming“ verspricht Auferstehung und Hoffnung – möglicherweise in einer anderen Inkarnation. Passenderweise finden sich die Worte auf Drakes Grabstein .Auf das posthume time of no reply wurde in der Re-Edition leider verzichtet. Stattdessen liegen die wirklich kompetent gemachte BBC-Dokumentation „A Skin Too Few“ und ein aufwändiges Booklet bei. >» www.nickdrake.net/
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