Nicolas Jaar

Sirens

Other People/Rough Trade

Ein weiterer Meilenstein auf dem Weg ­Nicolas Jaars zu einem der wichtigsten Innovatoren der elektronischen Musik.

Schon Wochen vor der Veröffentlichung seines zweiten Soloalbums ließ der Künstler einen geheimen Stream mit der Musik herumschicken. Die neun Tracks waren im Ganzen zu hören. Es war der ausdrückliche Wunsch Nicolas Jaars, dass seine neue Musik am Stück angehört werden sollte und nicht portioniert. Und es ergibt durchaus Sinn, nicht zu wissen, wann ein Song auf SIRENS aufhört, wann der nächste beginnt, ob die Pause in der Musik einen Übergang zwischen zwei Tracks markiert, oder ob sie ein Stilmittel innerhalb eines Tracks ist. Weil Jaar eine musikalische Geschichte erzählt, der die Anhörung in Häppchen nicht gerecht werden würde.

Im Jahr 2011 veröffentlichte der New Yorker mit den chilenischen Wurzeln sein Debütalbum SPACE IS ONLY NOISE – neben dem Debüt von James Blake der bedeutendste Beitrag zu den Themen Langsamkeit und Stille in der zeitgenössischen elektronischen Musik. Man konnte die fragmentierten elektronischen Klänge dieses Debüts gerade noch in der House-Schublade ablegen, tanzen dazu ging aber nicht. Wie weit Nicolas Jaar auf dem Weg zum musikalischen Experimentierer vorangeschritten ist, zeigt nicht nur das Intermezzo mit dem (zurzeit auf Eis liegenden) Kraut-Electronica-Projekt Darkside mit Dave Harrington. Vor allem die 12-Inch-Serie „Nymphs“ und das von allen Kompromissen befreite Digital-only-Album POMEGRANATES aus dem vergangenen Jahr, der neue Soundtrack zu dem sowjetischen Film „Die Farbe des Granatapfels“ aus dem Jahr 1969, haben eine neue Qualität des Experimentierens bei Nicolas Jaar etabliert. Der Künstler selbst sieht „Nymphs“, POMEGRANATES und SIRENS als Teile einer konzeptuellen Trilogie. Und so ist dieses neue Album ein weiterer Meilenstein eines der wichtigsten musikalischen Innovatoren, ein Album, das nur noch wenig zu tun hat mit dem Minimalismus des Debüts SPACE IS ONLY NOISE.

Der Sound of Silence ist noch vorhanden, aber rudimentär, die stillen Passagen dienen als Basis für Ausbrüche in musikalische Grenzbereiche. Das Album ist also nicht mehr ausschließlich dem Minimalismus verpflichtet, es bietet manchmal sogar epischen Maximalismus, der aber weit entfernt ist von einer masturbatorischen musikalischen Leistungsschau. SIRENS hat eine Menge zu bieten, die man nicht einmal nach dem fünften Hördurchgang fassen kann. „The Governor“ zum Beispiel schlägt in seiner Laufzeit von gut sieben Minuten die Brücke zwischen Suicide-artigem Postpunk über Piano-Ambient hin zu einer freejazzigen Kakophonie inklusive Saxofon. „No“ ist eine Art Reggae mit spanischen Vocals und entfernt verwandt mit Jonathan Richmans „Egyptian Reggae“. Die Reise geht vom elektronischen Impressionismus hin zum dunklen Songformat, atonale Überraschungen, Wendungen und Stilbrüche ausdrücklich erwünscht. Erwartungen lösen sich auf, Genre­begriffe auch. Was ist ein Song? Was ist ein Track? Es ist egal.