Sex Pistols :: Never Mind The Bollocks: Here’s The Sex Pistols: 30th Anniversary Limited Vinyl Edition

Punk: Die Revolution des Proletariats - der große Rock'n'Roll-Schwindel und seine Folgen.

„Schon mal das Gefühl gehabt, betrogen worden zu sein?“, hetzte Sex-Pistols-Frontmann Johnny Rotten beim finalen Auftritt einer desaströsen US-Tour im Januar 1978 in San Franciscos Winterland Ballroom ins Auditorium. Passender Abschluss für ein von der Rock-Elite argwöhnisch beäugtes Projekt, das mit einem Auftritt am 6. November 1975 in der Londoner St. Martin’s School Of Art spektakulär begonnen hatte und nach dem abrupten Ende exakt vier Singles sowie einen Alben-Klassiker hinterließ. In der kurzen Phase ihrer Existenz führten die Sex Pistols den bis dahin geltenden Kunst-um-der Kunst-Willen-Ethos mit einer Do-it-yourself-Philosophie ad absurdum.

Seither zermartern sich smarte Zeitgenossen die Köpfe, um Antworten auf diverse offene Fragen zu finden. Etwa die, ob die als Punk-Pioniere apostrophierten Pistols tatsächlich eine „authentische“ Band waren? Oder doch eher zornige junge Männer aus Sohos Unterwelt, die der Fetisch-Mode-Kollektion von Malcolm McLarens damaliger Lebensgefährtin Vivienne Westwood eine zur Fratze verzogene Visage verpassten. Schlimmer noch: Könnten die Pistols möglicherweise das Produkt eines Castings, einer dadaistischen Inszenierung McLarens sein, um mediale Aufmerksamkeit zu erzielen, wie er hämisch nach der Trennung in Julien Temples 1979 entstandener Dokumentation „The Great Rock’n’Roll Swindle“ behauptete? Auch wenn zahlreiche Indizien McLarens zehnstufigen Plan zum Multimillionär stützen, bleibt doch ein zeitloses Album und eine Band, die schon vor den Winkelzügen des gewieften Managers eine eigene Vita besaß.

Provokant, rebellisch und kompromisslos steht Never Mind The Bollocks – Here’s The Sex Pistols auch nach drei Jahrzehnten wie ein Monolith in der Musiklandschaft. Ein Meilenstein, der über die Jahrzehnte hinweg für die Verbreitung der nihilistischen Ideologie des Punk sorgte. Als am 12. November 1977 das lang ersehnte LP-Debüt der Sex Pistols erschien, lagen turbulente Monate hinter Sänger Johnny Rotten, Gitarrist Steve Jones, Schlagzeuger Paul Cook und Bassist Sid Vicious. John Simon Richie, wie Vicious bürgerlich hieß, kam allein aufgrund seines makellosen Punk-Images als Ersatz für die geschasste Songwriter-Koryphäe Glen Matlock in Frage. Zwischenzeitlich unterzeichneten die Sex Pistols kurzfristig bei den Majors EMI und A&M, kassierten dafür ansehnliche Summen, bevor Virgin sich im Sommer 1977 der damals wohl meistgehassten Band auf der Insel annahm.

Das bislang für Hippie-Liebreiz stehende Virgin-Label als Vertragspartner verblüffte. Doch wie Gründer Richard Branson sich in seinen Memoiren erinnert: „Die Sex Pistols waren der absolute Wendepunkt, eine plakative Bilderbuch-Formation, die Virgin ein komplett anderes Image verschaffte“ Wie anders, das bezeugten zahlreiche von Strippenzieher McLaren inszenierte Skandälchen. Beispielsweise der von herben Schimpfworten umflorte, von der „Daily Mail“ als „The Filth And The Fury“ überschriebene Auftritt in Bill Grundys Thames-TV-Talk-Show in Begleitung des berüchtigten Pistols-Fanclubs Bromley Contingent mit den späteren New-Wave-Ikonen Siouxsie Sioux, Severin und Billy Idol. Oder die Bootsfahrt anlässlich der Veröffentlichung der zweiten Single „God Save The Queen“ zum 25. Krönungsjubiläums der Queen auf der Themse mit anschließender Festnahme des nahezu gesamten Pistols-Clans. Ein weitgreifendes Auftrittsverbot, ein landesweiter Boykott im britischen Rundfunk und von aufgebrachten Pistols-Gegnern zusammengeschlagene Bandmitglieder sorgten nicht nur für mediales Aufsehen, sondern dienten selbstverständlich auch der Legendenbildung.

Die drei Studiosessions für das eher mit rudimentärer musikalischer Finesse ausgestattete Quartett gestalteten sich schwierig. Nacheinander die Klinke in die Hand gaben sich Chris Spedding, Dave Goodman, Mike Thorne und Chris Thomas, der die Produktion schließlich betreute. Die zwölf Songs des Albums, das zum 30-jährigen Jubiläum im Original-Cover-Artwork Jamie Reids als limitierte 12-Inch-Vinyl-Edition mit Poster und einseitig bespielter 45er Single wiederaufgelegt wird, waren urwüchsig, brachial und unverwüstlich. Kurze, prägnante Stücke auf Drei-Akkord-Basis, die dem damals angesagten Progressive-Rock fies ins Antlitz grinsten. Die Wurzeln dieser Musik greifen tief im Sixties-Garagen-Rock (The Downliners Sect, The Standells, The Sonics). Aber die Songkollektion darf auch als Reminiszens an die Vertreter der gerade untergegangenen Glam-Rock-Frakaon – David Bowie, T. Rex, Slade, New York Dolls und Iggy & The Stooges – gewertet werden. Als Einftuss ebenfalls nicht zu unterschätzen: die Krautrocker Can, Neu! und Amon Düül II.

Kernstück des Albums ist jene Hymne, in der Rotten schnarrend und mit rollendem „r“ die Worte „Anarchist“ auf „Antichrist“ reimt. „Anarchy In The UK“ wurde im November 1976 veröffentlicht, dann aus Angst vor Repressalien von der EMI vom Markt genommen. Das Single-Debüt trat die gigantische Medienlawine der kommenden Monate los. Ein geradezu majestätisches Stück Rock’n’Roll mit hypnotischem Gitarren-Riff. Der aufrührerische Nachfolger „God Save The Queen“ kam im Mai 1977 offiziell auf Rang 2 der Charts. Die dritte Single „Pretty Vacant“ spielte im Text auf die immens hohe Arbeitslosenrate unter englischen Jugendlichen an. Im Oktober 1977 kam dann „Holidays In The Sun“, die erste Single ohne Matlocks Gespür für harmonischen Lärm.

Auch der Rest des Albums fräst sich hypnotisch in die Gehirnwindungen. Die neue Gegengesellschaft, die zehn Jahre nach dem „Summer Of Love“ mit mehrtägigen Festivals im Londoner 100 Club den „Summer Of Hate“ zelebrierte, empfand schroffe Songentwürfe wie „Seventeen“, „Problems“, „No Feelings“, „Liars“ und „Bodies“ als Soundtrack eines aufregend neuen Lebensgefühls. Das finale „E.M.I.“ schließlich fuhrt noch einmal den bauernschlauen Coup vor Augen, bei dem Malcolm McLaren 40.000 Pfund Ablöse kassierte. Unverständlich bleibt allerdings, warum das nachträglich ins Tracklisting eingefügte „Submission“, der Erstauflage des Albums als einseitig bespielte 7-Inch beigelegt, und auch die Hommage an die New York Dolls, „New York (Looking For A Kiss)“, nicht als Nachfolge-Singles ausgekoppelt wurden.