Sex Pistols – Never Mind The Bollocks
Das erste Album der Pistols. Langerwartet, natürlich heiß umstritten, und verdammt gut. Mit diesem Urteil werde ich wohl Tausende von ME-Lesern endgültig um ihren Verstand bringen. Wie schrieb doch Thomas Heindorff aus 3101 Hambühren: „Schmeißt, um Gottes Willen, endlich diesen hh raus. Dieser großkotzige Scheißer zeigt ja überhaupt keine Objektivität… So großarschige Silbenkotzer wie die Sex Pistols sollen die Erneuerer des Rock sein?“ Sie sind es, Thomas, sie sind es wirklich. Rockmusik ist eine Form von Kommunikation auf emotionaler Ebene. Und wenn ich Johnny Rottens einzigartige überschnappende, heiße, häßliche Stimme höre, dann erfahre ich etwas über die Welt um mich herum, ohne überhaupt zu verstehen, was genau er da singt. Und die unschöne, schrille, messerscharfe Musik der Pistols paßt nahtlos dazu.
Als Jagger und die Stones vor fünfzehn Jahren loslegten, habe ich ähnliches gefühlt. Seitdem hat sich meine Umwelt zu ihrem Nachteil verändert. Die Ruhr, an der ich geboren wurde, taugt nicht mehr zum baden. Die Luft darüber, die – so sagte die SPD – wieder blau werden sollte…na ja. Und in Hamburg, wo ich jetzt lebe, ist die Alster schmutzig und von vierspurigen Straßen gesäumt, liegt Brokdorf vor der Tür, und so weiter. Wenn ich sehe, wie es bei meinem 17 jährigen Bruder in der Schule zugeht – Leistungsdruck, dunkle Zukunftsaussichten etc. -, wenn ich sehe, wie wenig eine Regierung in Bonn für die Bürger tut, wenn ich sehe, wie Terroristen erst wankelmütige Politiker und dann uns alle in einen Polizeistaat schießen, dann ist Mick Jagger Nostalgie und Johnny Rotten die Tagesschau am heutigen Abend. Das, lieber Thomas, ist die Objektivität eines großkotzigen Scheißers. Aber nun weißt Du ja Bescheid. „Never Mind The Bollocks“ enthält die vier bislang veröffentlichten Singeis der Pistols und daneben etliche neue großartige Songs – „EMI“ und „No Feelings“ zum Beispiel. Die Pistols sind noch immer die Speerspitze des Punk, und solche Mengen von roher, unverarbeiteter Energie wie sie bringt sonst niemand rüber. Johnny Rotten brüllt seine Frustation heraus, klar doch; ihm geht es hinterher hoffentlich besser (schließlich bekommt er auch noch Geld dafür), und mir manchmal auch. Wenn diese LP nur vier Sterne bekommt, dann deshalb, weil ich auch Steve Miller oder Boz Scaggs liebe und die Pistols noch nicht allzu viel musikalische Vielfalt verbreiten. Obwohl ja ein Song wie „Pretty Vacant“ der perfekte Soundtrack für das Jahr 1977 ist, was selbst sechs Millionen verkaufte „Rumours“-Alben (von Fleetwood Mac) nicht umwerfen können.