St. Vincent

ALL BORN SCREAMING

Total Pleasure/Virgin/Universal (VÖ: 26.4.)

Die Welt brennt – und Annie Clark hat sie angezündet: Die Rock-Musikerin ist wütender denn je – und es steht ihr gut.

Kaum eine Moment im Leben eines Menschen ist so voller Leben wie der allererste: Wenn der frisch geborene Säugling anfängt loszuschreien. WE’RE ALL BORN SCREAMING, sagt man da im Englischen und lacht, wir schreien alle von Minute eins, und danach geht es auch nur bergab. Das scheint auch Annie Clark so zu sehen, die ihr siebtes Album so genannt hat und auf dem Cover in Flammen aufgeht. Oder sollen ihre brennen den Arme etwa Flügel darstellen, und sie ist ein Phönix, der im Laufe des Albums aus der Asche steigen wird? Das liegt im Auge des Betrachters.

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Den Namen jedenfalls scheint sie nicht ohne Grund gewählt zu haben: So voller kalter Wut und Aggression klang St. Vincent schon lange nicht mehr, wenn je überhaupt. Das Intro „Hell Is Near“ kommt noch irreführend verführerisch daher, bevor es in den Abgrund geht, aber auf „Broken Man“ scheint sie ihre Wut nur mühsam in Schach halten zu können. Auf wen ist sie sauer, das als „Lover“ im Song angesprochene Gegenüber? Oder auf sich selbst, auf die Person, die den Fehler gemacht hat, sich von der Liebe brechen zu lassen?

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Vielleicht auf alles und jeden. Vielleicht ist das aber auch egal. Zumindest wenn es so fantastisch klingt wie auf diesem Album, das sie übrigens zum ersten Mal in ihrer Karriere ganz und gar alleine produziert hat, ohne Co-Produzent:innen an der Seite. Da wäre etwa das auf sein Skelett reduzierte „Reckless“, auf dem Clark ihre Stimme zum Zittern bringt, wie es nur ein richtig emotionaler Streit auslösen kann – just bevor ihr ein akustisches Gewitter inklusive kirchenchor-ähnlichem Gesang zur Seite gestellt ist. Später lässt sie auf „Flea“ ihre Stimme über kalifornisch-verspulte Gitarren schlängeln, nur um mit „Violent Times“ einen Song zu liefern, der mit seinen großen Gesten in Gesang und Arrangement (theatralische Gesangsharmonien! Blasinstrumente!) glatt als eine Bewerbung für den nächsten James-Bond-Titelsong durchgeht.

Energie? Frieden? Hummeln im Hintern?

Warum auch eigentlich nicht? St. Vincent ist seit Jahren gleichermaßen ein Enigma wie auch eine Künstlerin, auf die sich die Rockwelt wohl oder übel einigen kann. Schließlich ist sie eine der besten Gitarrist:innen der Welt, zumindest laut dem US-amerikanischem „Rolling Stone“. Und sie ist die Lieblingsmusikerin aller Lieblingsmusiker – die sich darum reißen, bei ihr mitspielen zu dürfen. So etwa Foo-Fighters Frontmann Dave Grohl, der auf den besagten Songs „Flea“ und „Broken Man“ wie schon zu Nirvana-Zeiten die Drums übernimmt und im besten Grungemodus drauflos drischt.

St. Vincent über „Broken Man“: „Grohl treibt den Song auf die Spitze“

Und er ist nicht der einzige Gastmusiker, der Clark zur Seite steht: Auch der neue Foo-Fighters-Drummer Josh Freese ist dabei, ebenso Stella Mozgawa von Warpaint und die wunderbare Waliserin Cate Le Bon, die die ungewöhnliche und arg nach Urlaub klingende Basslinie auf dem Titelsong und epischem Closer „All Born Screaming“ liefert.

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Denn die Wut, sie verwandelt sich im Laufe des Albums, ändert spätestens mit der schönen SOPHIE-Hommage „Sweetest Fruit“ seine Form, durchläuft eine Metamorphose und endet in so etwas wie … Energie? Frieden? Hummeln im Hintern? In der letzten Minute von „All Born Screaming“ nimmt uns Clark jedenfalls an die Hand und reist mit uns der Stratosphäre entgegen. Genese, Tod und Wiedergeburt – Annie Clark erspart uns nichts. Und genau dafür lieben wir sie.

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