Terre Thaemlitz – Replicas Rubato

Möglichkeiten, eine Terre Thaemlitz-Platte zu konsumieren: 1. Gehen Sie in die nächstgelegene Fachbuchhandlung und versorgen Sie sich mit den Standardwerken zu Poststrukturalismus und Dekonstruktion. Kaufen Sie zudem alle Publikationen in deren Titel das Wort „Queer“ vorkommt. Nach etwa einem Vierteljahr intensiver Lektüre können Sie vorsichtig das Booklet aus der CD ziehen. Beginnen Sie jetzt die gezielte Gegenlektüre. Eventuell müssen ein paar Aufsätze aus neuen amerikanischen Theorie-Sammlungen kopiert werden. Recherchieren Sie im Internet. Nach ein- bis zwei weiteren Monaten können Sie eventuell die Musik gewinnbringend zu sich nehmen. 2. Starten Sie die Musik, und lesen Sie gleichzeitig den Begleittext. Wenn Sie schnell sind, haben sieden Text gelesen, bevor die (75 Minuten lange) CD zuende ist. Wenn Sie klug sind, haben Sie was verstanden. Wahrscheinlich aber keinen Spaß gehabt. Aber darum geht es auch nicht. Oder doch? Probieren wir Methode 3. Einfach nur Play. Sie hören: Klavier. Neo-klassifizierte, verhallte, freie Solo-Piano-Versionen von Gary Numan-Songs. Der „Cars“-Gary Numan. Der sexuell nicht festnagelbare, pop- und gender-geschichtlich modellhafte Gary Numan. Den Thaemlitz nicht nur, aber vor allem wegen dieser Eigenschaften ausgewählt hat. Wie bei seinem Album mit Kraftwerk-Covern ist auch diesmal „Rubato“ seine musikalische Strategie: ein laut Lexikon „in Tempo und Ausdruck freier Vortrag“. Sie sehen schon: auch der Rezensent greift zu Büchern. Bevor das jetzt ausartet (wofür es viele gute Gründe gäbe): welche Leseart Sie auch immer wählen: Sie werden angeregt irritiert sein. Das ist Thaemlitz‘ Ziel. Und das ist gut so.