Tim Hecker

Love Streams

4AD/Beggars/Indigo

Neo-Avantgarde, die kunstvoll mit den Strippen unserer Seele spielt.

Klang-Avantgardisten, die in der Welt zwischen Kunst, Krach, Schönheit und Pop beheimatet sind, gibt es heute eine Menge. Um sie zu bewerten, ist weniger die Fragestellung sinnvoll, wie diese Musik klingt. Wichtiger ist, was sie auslöst. Denn wird diese Neopop-Avantgarde richtig gut gespielt, schaltet sie sich mühe­los ins Unterbewusstsein. Dorthin, wo die Ängste schlummern. Aber auch die Euphorie.

Neben Ben Frost kennt Tim Hecker die direktesten Wege in diese Gegend der menschlichen Seele. Er hat seine Musik einmal „fake church music“ genannt, was eine wunderbare Beschreibung ist: Wer sich sonntags doch mal wieder in eine Kirche verirrt, die voluminöse Orgel hört, den brüchigen Gesang der Gemeinde, das Frömmlerische des Klerus beobachtet, der kann über diese Lächerlichkeiten lachen. Wenn man sehr auf sich achtet (und katholisch aufgewachsen ist), spürt man, dass bei diesen Eindrücken durchaus ein paar psychische Seilschaften in Schwingung geraten. Man ist gerührt. Fühlt sich berührt. Aber irgendwas passiert. Und man weiß gar nicht warum. So funktioniert auch LOVE STREAMS, Heckers erstes Album für die Klang­spezialisten 4AD.

Entstanden ist das Werk in Los Angeles sowie in Island, im Studio vom Kollegen Ben Frost. Zu hören sind Heckers Stärken: nackte akustische Momente, die in digitalem Lärm aufgehen, Stimmen, die halb singen, halb sprechen, Melodien, die kurz auftauchen, um dann wer weiß wohin wieder verschwinden. LOVE STREAMS hören bedeutet, nach ihnen zu fahnden. Die Suche kann an den Nerven zehren, doch am Ende kann die ganz große Schönheit stehen. „Castrati Stack“ ist ein gutes Beispiel: Es ist kaum zu ergründen, woher Tim Hecker diese Harmonien nimmt. Am Ende klingt der Track wie ein leicht verschobenes Stück von Slowdive: weltfremd, losgelöst von allem, was einen sonst so bremst.