Verdikte über Musik

Das Wort „Kritik kommt aus dem Griechischen und bezeichnet das „Scheiden, Trennen, Entscheiden“ – zwischen Kunst und Mist. Sinn und Unfug, wertvollem Werk und nichtswürdigem Erzeugnis – auf dem Wege der Aufschlüsselung des Gehalts (so vorhanden!). Der Begriff „Verriß“ ist erst seit dem 19. Jahrhundert üblich und steht (u. a.) für eine heikle Grenze: zwischen der notwendigen Bezeichnung zweifelhafter bis widerlicher Machwerke und dem Narzißmus des Kritikers, der sich von der Macht der Sprache zur pompösen Empörung, zur tobenden Beleidigung verleiten läßt und scheinbar blindwütig drischt, weil es halt gar so viel Spaß macht. Eine Grenzüberschreitung bedingt weitere Schritte bei der nächsten, und weil Leser und Hörer meist noch größere Freude an Verrissen haben als der (idealerweise tatsächlich leidende) Kritiker, ist das Genre des In-die-Pfanne-Hauens zu einer der beliebtesten Spielarten der Kritik erblüht. Friedrich Geiger hat Texte aus 50 Jahren gesammelt, in denen Musik beschimpft, verhöhnt und abgetan wird, wobei seine Auswahlkriterien durchaus kritikwürdig sind: Es ergibt sich der Eindruck einer immensen Milderung von der tosenden Sprachgewalt, dem feinsinnigen Sachverstand und der hochintellektuellen Herangehensweise der Klassik- und Jazzkritik bis zur überwiegend lahmen, plumpen, mühe- und lustlosen Popkritik neuerer Zeit. Das liegt daran, daß er sich seine wenigen Beispiele dieser Richtung nach 1990 aus einem einzigen, nicht für seine Lust an blumigem Schimpf bekannten Magazin gesucht und die Masse origineller Verrisse komplett ignoriert hat. Dennoch zeigt sein Kompendium, was Musik und ihre Kritik kann und soll (und was man von ihnen erwarten könnte oder sollte), welche Ansprüche (und Verirrungen) ihre Rezeption im Lauf der Zeit prägten. Ein kleiner Anfang, aber im Zeitalter des kritiklosen Produktkonsums, der Verengung der „Kritik“ auf Empfehlung/Abratung unter eindimensionalen Rudimentärkriterien immerhin das.