Young Marble Giants – Colossal Youth & Collected Works :: Jenseits der Vorstellungswelten
Im Mai 1980, knapp drei Monate nach Veröffentlichung von Colossal Youth, verrät Stuart Moxham dem Reporter der britischen „Sounds“ so etwas wie das Geheimnis der Young Marble Giants. Das sind die Pausen, die genauso wichtig wie die Musik selber sind, und die Kraft der wenigen Instrumente, die trotzdem einen vollen Sound erzeugen. Die 15 Songs auf dem ersten und einzigen Album der Young Marble Giants haben mehr Pausen, als die Plattenindustrie erlaubt, sie besitzen von Gott und der Welt verlassene Melodien, eine bahnbrechende Simplizität und einen Gesang, der heute noch so seltsam emotionslos klingt, dass man bei der Interpretin vorbeischauen möchte, ob auch alles in Ordnung ist. Was Nico für The Velvet Underground, war Alison Statton für die Giants; sie thronte mit ihrer Stimme über diesen Songhäuflein wie eine Kinderliedersängerin, die sich in einen schwermütigen Film verirrt hatte.
1980 war der Punkrock langst in seine Einzelteile zerfallen, die größeren Bands probten die Expedition in neue Kontexte und Zusammenhänge, die kleinen Punks waren schon an ihren Idealen zerbrochen. Dexys Midnight Runners zelebrierten ein letztes Mal die Romantik der Revolution (SEARCHING FOR THE YOUNG SOUL REBELS), Gang Of Four interpretierten den Rock in den Koordinaten einer new world order. Die Young Marble Giants traten ohne Voranmeldung, ohne eine einzige Single, kaum live-erprobt und ziemlich leise in dieses Szenario des Umbruchs: Allison Statton (21, Gesang), die Brüder Philip (19, Bass) und Stuart Moxham (25, Gitarre, Billig-Orgel) – die Beats aus der Maschine nicht zu vergessen, die diese Musik für jeweils zwei, drei Minuten an Orte fahren konnte, die jenseits der Vorstellungswelten von ziemlich nervösen 20-jährigen Wave-Boys lag. Die Songs der Young Marble Giants kamen aus den Echokammern der Melancholie, einem Labor für kühlen Minimalismus, mehrheitlich aber aus dem grauen Nichts, das ein Leben abseits der Hip-Routen des Pop generierte.
Die Doppel-CD Colossal Youth & Collected Works ist die bisher umfassendste Wiederveröffentlichung dieses kleinen, großen Wunders aus Wales. CD 1 enthält das komplette Album COLOSSAL YOUTH, auf CD 2 folgen die Testcard EP, die drei Tracks der Single „Final Day“, die Demo-Sammlung Salad Days und der Song „Ode To Booker T“, der 1979 auf der Cardiff-Compilation IS THE WAR OVER? enthalten war. Ein Promo-Exemplar eben dieser Zusammenstellung landete damals auch bei Rough Trade Records in London, die drei darauf enthaltenen Giants-Tracks müssen Label-Chef Geoff Travis derart beeindruckt haben haben, dass er den Young Marble Giants einen Blanko-Scheck für das Album austeilte: „Macht, was ihr wollt.“ Selbst im Ensemble der Exzentriker, die damals das Rough-Trade-Label bevölkerten – 1980 erschienen dort Alben von The Fall, Pere Ubu, Cabaret Voltaire und der Pop Group – schienen die Young Marble Giants doch irgendwie fehl am Platze. Ein Trio aus Wales, das sich allen gängigen Trends und Texturen, allen Pop-Attitüden verweigerte.
Wie sie dieses doch ziemliche trübe Leben im Industrieloch Cardiff verstoffwechselten, davon erzählt colossal youth Song für Song – hintergründig, stellenweise verschwurbelt, ein Misstrauen dieser grellen, lauten modern world gegenüber ist spürbar. Die Giants spielen lieber „Music For Evenings“: „Keep your music for evenings / and your coffee for callers / say goodbye to your freedom / don’t come here with your wallet“. Sie lassen die Vergangenheit im 1.58-Minuten-Punk-Song „Include Me Out“ hinter sich und sehnsüchteln vollendet im Eröffnungstrack „Searching For Mr. Right“. Bald kommen die Bässe, die knorpeligen und knackigen, die mäandernden Orgeleien („N.I.T.A.“), die Easy-Listening-Koketterien („The Man Amplifier“, „Wind In The Rigging“). In solchen Momenten erklärt sich, warum die Giants ein kurzlebiger Entwurf sein mussten. Der Gefahr der Wiederholung und Versüßung begegneten die Moxham-Brüder mit der Testcard EP Anfang 1981: Sechs Instrumentals, die erklärtermaßen als Experiment angelegt waren. Stuart und Philip imitierten im gewohnt lakonischen Stil britische Testbild-Muzak aus dem Fernsehen, Testcard entstand schon ohne Alison Statton, die während der Aufnahmen krank war – das war der Anfang vom schnellen Ende eines nicht für diese Welt gebauten musikalischen Giganten. Für ein paar Minuten aber galten die Young Marble Giants als das next big thing und Alison als the future of Rock’n’Roll. So ziemlich die sympathischste Fehleinschätzung der letzten 30 Pop-Jahre. Im Unterschied zu seinem Entstehungszeitraum besitzt das Album Colossal Youth heute einen greifbaren Kontext, man kann ihn in der Soundästhetik der Bands des Washingtoner K-Labels suchen, bei den Magnetic Fields, Broadcast und Belle & Sebastian vielleicht. Man wird nicht vergessen darauf hinzuweisen, dass Colossal Youth zu den Lieblingsalben von Kurt Cobain zählte und Courtney Love mit Hole später das Kunststück fertigbrachte, den YMG-Klassiker „Credit In The Straight World“ so ziemlich vor die Wand zu fahren. Aber all das sind nur Nebenschauplätze dieser Geschichte. Die Young Marble Giants haben den Rückzug ins Private als letzte Volte des Pop vorweggenommen, sie fanden in ihren Songs Zuflucht vor der Vergesellschaftung des Rock’n’Roll, sie klangen ein bisschen wie Homerecording, dabei spukte ihnen home allenfalls als kleineres Übel in den Köpfen rum.
Parallel zur Colossal Youth-Wiederveröffentlichung kündigten die Young Marble Giants ihre Reunion für einen einzigen Festival-Auftritt 2007 an. Kaum vorstellbar, dass daraus mehr als ein Grußwort an die Fans wird. Die Young Marble Giants konnten sich 1980 schon kaum vorstellen, dass sie die Leben von ein paar Menschen nachhaltig verändern würden. Daran rütteln weder Reissues noch Reunions oder Rave-Reviews etwas. www.dominorecordco.com
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