Zuckerbabys

Für die 23jährige Sonja wird in Popjournalistin Kerstin Grethers erzählerischem Erstling, wie es sich im prima Mädchenroman gehört, ein Traum wahr. Soeben aus der süddeutschen Provinz ins aufregende St. Pauli und die erste eigene Wohnung gezogen, sieht die Zukunft für die flippige und flapsige „Comiczeichnerin und Mediendesignerin rosig aus, schließlich werden doch tatsächlich die coolen Girls Kicky, Ricky und Micky von der Mädchenband „Museabuse“ ihre Freundinnen! Auch die Liebe darf nicht fehlen: Schwärm Johnny ist von Sonja so betört, dass er gar nicht anders kann als anbeißen. Der Madchenroman wäre jetzt aus. Das war‘ aber blöd, denn viel ist noch nicht passiert. Zum Glück hat Sonja da dieses Problem: ihre monströse Konfektionsgröße (38). Und so geschieht es. dass, als für Sonja eigentlich alles nach Wunsch läuft und auch der Gesangsunterricht Früchte trägt, sie eine radikale Entscheidung trifft: Hungern mit Slim Fast. Die allgegenwärtigen Musikvideos und der Schönheitsbegriff der modernen Plastikwelt treiben unsere plötzlich überraschend labile Protagonistin in den Schlankheitswahn. „Dünner als dünn“ will sie werden. Sie teilt ihre Geschlechtsgenossinnen ein in „knieschlank“ und „oberschenkelbestraft“, bald wird ihr auch die Portion Spinat und der tägliche Apfel, an dem sie stundenlang nagt, zuviel. Johnny will längst nichts mehr von ihr wissen; sie ist zu klapprig für seinen Geschmack. Hilfe! Dann riechen auch noch die Freundinnen Lunte, drohen mit Zwangsernährung und Petze bei Mutti; also muss rasch ein Alibi-Kakao hinein, der selbstverständlich mit extra Schwimm- und Skateboardeinheiten sowie einer Woche Spinat- und drei Tagen Apfelentzug gesühnt wird. Sonja zeigt alle Symptome einer ausgewachsenen Magersucht. Sie arbeitet kaum noch, vereinsamt, klaut, wird schwach und schwächer und rasant zur hohlen Nuss… – Fairerweise muss gesagt sein, dass die Idee mit den Musikzitaten (Sonja denkt und spricht gerne in Songtextfragmentenl schön ist. Es macht großen Spaß, die dazugehörigen Songs von Madonna bis Rio Reiser aus dem Gedächtnis zu graben; so entsteht der Soundtrack zum Buch. Andererseits muss man es schon mögen, wenn Seide „seidig “ ist. Wissen „gewusst“. mit Gewürzen „gewürzt“wird und Mädchen „fruchtig aussehen “ und tüchtig und züchtig und sexy und süchtig . Selbst wenn Dirk von Lotzow (Tocotronic meint, es sei dies ein wundervoll poetisches Buch für alte, die Humor haben und trotzdem Ernst verstehen, sind doch eher Sportsgeist und Sitzfleisch erforderlich, um die kindlichen und kindsköpfigen „Zuckerbabys“ zu ertragen und den Roman nicht entnervt zur Seite zu legen. Nichtkranken Kickis mag man das Buch darum nicht guten Gewissens ans Herz legen. Und wer, wie unsere Sonja, mit am Ende Kleidergröße 32 (Tendenz fallend) eine „dusselige kleine warme Mahlzeit“ alle 23 Stunden für Völlerei hält, dem sei empfohlen, möglichst zeitnah eine professionelle Beratungsstelle aufzusuchen. Aber auch das geht am besten ohne die „Zuckerbabys“.