Richtiger Ort, richtige Zeit: Wilco


Gegen Pauli und Blumfeld: Die beste Wilco-Besetzung aller Zeiten macht andere Großattraktionen des Abends vergessen.

Über der Stadt lastet eine garstige Schwüle. Im Bus pöbeln sich soziale Randgruppen gegenseitig nieder („Ahe, wie wär’s mal mit Duschen? Du stinkst voll!“), Gewitterfliegengeschwader blasen zum Generalangriff, das Konzert beginnt zu früh, ansonsten ist alles zu spät. Man fühlt sich wie das blühende Elend und sieht auch so aus. Aber Wilco haben’s auch nicht leicht. 200 Meter Luftlinie vom Konzertvenue entfernt, haben sich grob geschätzte 800.000 Menschen vor einer Videoleinwand zu einem riesigen Haufen zusammengeknäult. Alle drängeln und schwitzen und bläken irgendwas. Warum? Nach Jahren des Regionalliga-Rumgekickes soll der FC St. Pauli heute den Aufstieg in die 2. Bundesliga schaffen. Und als sei das noch nicht theatralisch genug, spielen Blumfeld heute Abend in Hamburg auch noch ihr unwiderruflich letztes Konzert ever. Blumfeld! Das letzte Konzert! Wie, so fragt man sich, als man der nächsten Gewitterfliege gerade das „Du“ anbieten will, sollen Jeff Tweedy und seine wunderbare Band bloß gegen all dies anstinken?

Sie geben die Antwort mit dem ersten Song: „You Are My Face“ vom neuen Album SKY BLUE SKY. Jeff Tweedy – in dicker Jacke – und seine fünf Mitstreiter sind die Ruhe selbst und elektrisieren einen doch derart, dass man alles andere komplett ausblendet. „I Am Trying To Break Your Heart“ folgt, dann „Handshake Drugs“ – in der ersten Reihe macht einer den Glücksflummi. Tweedy ist beeindruckt. „Du erinnerst mich an Shaggy von Scooby Doo“, sagt er und grinst. „Das ist ein Kompliment.“ Pause. „I love you.“ Der mufflige Tweedy von einst ist Geschichte. Immer wieder sucht der Wilco-Boss den Kontakt zum Publikum. Das besteht aus vielen Männern, ein paar Frauen und vielen Brillen und ist so uncool und liebenswert wie sonst nur eine Teenage-Fanclub-Crowd. Glücksselig verfolgt es, wie Wilco nicht nur neue Songs wie „Walken“ oder „Impossible Germany“ spielen, sondern unerwartet viel von A Ghost Is Born. Vom wunderbaren Yankee Hotel Foxtrot „vergessen“ sie leider „Heavy Metal Drummer“, aber man will ja nicht rumzicken.

Die Band könnte dies alles auch im Schlaf tun, sie spielt beseelt und virtuos und schafft dabei das Zusatz-Kunststück, nicht mit fiesem Muckertum um die Ecke zu kommen. Der zweite Zugabenblock endet mit dem überschwänglichen „I’m A Wheel“ – mehr geht nicht. Berückt kehrt man zurück in die immer noch schwüle, aber gar nicht mehr garstige Nacht. In 3er Thai-Karaoke-Bar gegenüber singen sie schief „Take Me Home, Country Roads“. Pauli ist aufgestiegen, Blumfeld haben über drei Stunden gespielt. Und doch: Man war genau am richtigen Ort.

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