Rio Reiser: Rio Grande


Auch wenn ihn seine Kollegen zum besten deutschen Songschreiber kürten (ME/S 10/88): Als "König Von Deutschland" fühlt sich Rio Reiser nun gerade nicht. Von seinen alten Polit-Freunden als Schlagerf uzzi abgetan, von der neuen Popularität genervt, sucht der "Blinde Passagier" nach einem neuen Hafen. ME/Sounds-Mitarbeiter Henning Richter schiffte sich mit ihm ein.

Original oder Fälschung, das ist hier die Frage. Verabredet war ich mit Rio Reiser. Unrasiert, kettenrauchend, eine nonchalante Zahnbürste im Knopfloch, hat der Typ, der mir da gerade gegenübersitzt, schon eine verdammte Ähnlichkeit mit dem ehemaligen König von Deutschland“. Doch Mißtrauen ist angesagt, denn die „Kuhjaus“, ein trickreiches Fälscher-Duo, treiben zur Zeit ihr Unwesen im bundesdeutschen Musikgeschäft.

Fälschung oder Original? Okay Junge, ich glaub dir deine Nummer, schließlich bin ich als Zeilensöldner kein Privatdetektiv. Und für eine Handvoll Deutschmarks quatsch ich auch noch mit dem schrägsten Vogel.

Der Mann ist sichtlich erleichtert. Zerknirscht gibt Reiser zu, daß er sein Produzenten-Heil ausgerechnet bei den „Kuhjaus“ (alias Reinhold Heil und Udo Arndt) gesucht hat, die schon beim letzten Rainbirds-Album und Annette Humpes Solo-LP ihre Finger im Spiel hatten.

Also von wem stammt denn nun die Musik, Rio? „Alle Songs, bis auf einen, hab ich geschrieben, und auch die Grundlagen der Harmonien und Riffs stammen von mir. Die hab ich mit ’nein Computer gemacht. Aber damit kenn ich mich nicht besonders gut aus, und so war alles noch ziemlich schlampig. Deshalb habe ich mich mit den Kuhjaus zu ’nem Trio zusammengetan“, meint er, ohne den geringsten Anflug von Reue.

Für seine alten Fans ist der von Synthis beherrschte Sound sicherlich ungewohnter Stoff. „Soviel Synthetik, wie man zu hören meint, ist es gar nicht. Es liegt bekanntlich im Trend, so zu tun, als ob alles mit der Hand eingespielt wird. Doch wenn du genau hinhörst, merkst du, wieviel Elektronik da im Spiel ist. So kamen wir auf die Idee mit den Fälschern: Wenn jetzt alle behaupten, ihre Titel seien zu Fuß und zu Hand eingespielt worden, dann fälschen wir jetzt ’ne Platte. “ Da versagt zwar die reine Logik, aber Reiser stellte schon immer die Ausnahme der Regel dar.

Auch in Sachen DDR. Einen Ost-West-Song hat sich das frühere Mundstück der Polit-Rockband „Ton, Steine, Scherben“ zum Glück verkniffen; sein erstes Joint Venture begann er jedoch schon zu einer Zeit, als die meisten noch glaubten, ein derartiges Unternehmen sei ein Fall für die Drogenfahndung.

Lange Zeit zur unerwünschten Person erklärt, durften Rio und seine Band im November ’88 endlich ein Konzert in Ost-Berlin geben. Auf der Apres-Show-Party. die irgendein FDJ-Fürst schmiß, kam er mit dem Ossi-Rocker Lutz Kerschowski ins Quatschen. Der wurde von den damals noch realsozialistischen Medien als „Springsteen der DDR“

hochgejubelt. Reiser war immerhin so beeindruckt, daß er für eine Kerschowski-Scheibe mit Rock ’n‘ Roll-Standards als Produzent fungierte. Im Gegenzug engagierte der kleine Dürre aus dem Westen den „VE-Boss“ als Back-up-Sänger für sein „Zauberland“.

Dieses wunderschöne Lied, übrigens der einzige Nicht-Reiser-Text der neuen Platte, beschreibt das Ende einer Beziehung, das Gefühl zwischen Liebe und Freundschaft. Eine melancholische Rückschau, eine von vielen, die er in seiner 20jährigen Karriere immer wieder hielt. „Ich mache keine Happy-Songs, denn wenn ich glücklich verliebt bin, hab‘ ich keine Lust zum Schreiben“, sagt der inzwischen 40jährige Rio. In liebestrunkenem Zustand kämen ihm, wenn überhaupt, eher komische Ideen.

Von Lebenslust bis Todesangst reicht die Gefühlspalette der neuen LP, spitzbübischer Witz und tiefe Trauer liegen nur wenige Momente entfernt. Jeweils drei der zwölf Lieder fließen thematisch und musikalisch ineinander und bilden so einen vierteiligen Rio-Reiser-Reigen.

Ein weiteres Standardproblem, allerdings nicht nur von ihm, ist „Geld“ – Titel und Gegenstand der neuen Single. Diese sei vom Wirtschaftsmagazin bis zur Sportschau überall einsetzbar, unkt er in Erwartung des sprudelnden Tantiemenstroms, der direkt in seine chronisch leeren Taschen fließen soll. Und frei nach der alten Volksweisheit: „Heiter werden alle Mienen, bei dem schönen Wort Verdienen“, strahlt er angesichts dieser Aussichten über beide stoppelbärtigen Backen.

Der Schuldenberg aus der „Scherben“-Ära ist zwar inzwischen endlich abgetragen, aber Bares hat der (im Interview reichlich fahrige) Sänger trotzdem nie genug. „Ich werd einfach sauer, wenn ich keins krieg“, singt er in seinem neuen Gassenhauer und weiter: „Geld macht nicht glücklich es beruhigt nur die Nerven, doch man muß es schon besitzen,um’s zum Fenster rauszuwerfen“, da stimmen alle: Leser, Autor, Redakteur, natürlich lauthals mit ein.

„Das Leben, das ich führe, ist so stressig, daß man sich ausgleichende Trostpflaster leisten können muß. Ich mein keine Luxusgüter, sondern z. B. Reisen mit Leuten, die selbst keine Knete haben, und wenn’s nur nach Trier ist. Solange ich lebe wie momentan, was ich nicht ewig zu tun gedenke, brauche ich das. Ich bin nicht Grönemeyer, so viel verdien ich noch lange nicht. „

Ein wenig Linderung könnte der Fred-Jay-Preis bringen, der ihm, unter dem Beifall von deutschen Schlagerfürsten wie Ralph Siegel und Michael Kunze, Ende März verliehen wurde. Die Auszeichnung wurde gestiftet von der Witwe des verstorbenen Schlagerkomponisten Fred Jay („Ma Baker“) und geht an hervorragende deutschsprachige Texter/innen. 1989 kam Jule Neigel in den unerwarteten Genuß der 25.000 Marksprämie. Wohlwissend, daß er, der frühere Anarcho-Liebling, in alten, rebellischen Tagen diese zweifelhafte Ehre wohl nicht in Empfang genommen hätte, geht er in die Offensive:

„nir haben ja schon übers Geld gesprochen. Andere Leute lehnen den Nobel-Preis ja auch nicht ab, obwohl der von ’ner Dynamit-Firma finanziert wird. „

Doch die Münzen, die man im Show-Business verdient, haben nun mal unweigerlich zwei Seiten. Rio Reiser zu sein, bedeutet Spießrutenlaufen und Streß. „Ob in der Presse oder im TV, immer muß ich meine Fresse hinhalten. Und dann werd ich dauernd auf der Straße angequatscht… Aber ich kann einfach nicht Tag und Nacht den Popstar spielen. Wenn ich mich überrollt fühle, muß ich mich ins Bett legen und kann nur noch fernsehen und schlafen. Bis ich mich beruhigt habe und wieder weiß, wer ich eigentlich bin. „

Die Kreuzberger-Polit-Szene und Teile seines alten „Scherben“-Anhangs mögen ihn schon lange als etablierten Schlager-Fuzzi abgeschrieben haben, doch als Außenseiter im bundesdeutschen Musikbetrieb sieht er sich noch immer.

„Ich hab zwar nicht den Stein der Weisen gefunden, für mich genausowenig wie für mein Leben. Aber zu den Typen, die mich herablassend angucken, zu den Geschäftsleuten im Intercity zum Beispiel, sage ich: „Nee, ich bin nicht so wie ihr und vielleicht geht ’s mir damit sogar besser als euch!“