Rock am Ring, Nürburgring


Können Indiekapellen amtliche Megacrowds unterhalten? Sind formerly known Alternativerock-Acts die verdienten Headliner des neuen Jahrtausends?... Fragen über Fragen. Aber auch: Antworten über Antworten.

Mit einem Programm, dem die absoluten/üblichen Superstarnamen abgingen (AC/DC, Depeche Mode, Metallica usw.), das aber in der Tiefe mit so einigen Bands zu locken wusste, die nicht zuletzt im Musikexpress regelmäßig eine gewichtige Rolle spielen, gelang es den Veranstaltern, zum ersten Mal in der Geschichte von Rock am Ring (und auch Rock im Park) bereits im Vorfeld auszuverkaufen. Für die Pophistoriker lässt sich damit festschreiben: „Indie“ ist endgültig im Mainstream angekommen. Bands, die vor zwei, drei, vier Jahren noch 300er-Clubs rockten, standen nun vordem größten Getümmel der Republik (insgesamt waren am Ring über 80.000 Besucher) und versuchten diese Menge zu unterhalten. Wie gut ihnen das gelang, davon berichten wir hier:

DIE INDIE-HELDEN Mando Diao: Der Titeltrack vom „Clockwork Orange“-5oundtrack leitet den Auftritt von Mando Diao ein. Sie stehen eng beieinander, auf jeder Seite flankieren drei Studioleuchten die fünf Schweden. Aus der 87. Reihe müssen diese Lampen aussehen wie Haartrockner. So weit das Auge reicht, stehen Leute vor der Bühne und feiern diesen ziemlich puren Rock& Roll. Irgendwann zwischen „Good Morning, Herr Horst“ und „Down In The Past“, setzt der unvermeidliche Regen ein. Die einen ziehen schnell was über, die Fans ziehen T-Shirts und Jacken aus. und tanzen sich zu „Long Before Rock ’n‘ Roll“ nass. Nicht, dass das Mando Diao ohne Regen nicht auch geschafft hätten…

Kaiser Chiefs: Werden Gaudiburschen aus Leeds schon dabei zuschauen durfte, wie sie zielstrebig von Indiewohnzimmer zu Liveclub zu Stadthalle hüpften, dem ist ohnehin klar: Die machen auch die Center Stage klar. Mit „Ruby“ im Rücken, dem anhänglichsten Ohrwurm der Saison, einem Monsterkulissenschriftzug, der einen mindestens so ins Gesicht springt wie der Großteil ihres Repertoires, und dem sicheren Vollstrecker Ricky Wilson nahe am Volk, erledigen sie diesen Job souverän.

P.S.1: Das gelingt drei Stunden zuvor aber auch schon den Fratellis ganz gut mit ihrem weniger aufdringlichen, aber mindestens so gut gelaunten und ebenso schamlosen …ähem, „Pubrock“.

P.S.2: Die Cribs und Linie Man Tate kriegen das leider noch nicht so gut hin; sie fühlen sich offensichtlich noch ein bisschen verloren auf der immer noch riesigen Alternastage; anders als Maximo Park, die nicht für die Massen, aber für ein eingeschworenes und textsicheres Publikum aufdrehen, als hätten sie auch noch Größeres im Sinn…

The Hives: Es gibt einige Gründe, vor dem Auftritt der Hives skeptisch zu sein: Zum einen hat die Band erst zwei Tage zuvor das Studio in Mississippi verlassen. Zum anderen haben die Schweden dieses Jahr nicht mehr einen späten Slot auf der Alternastage gewählt, sondern zogen zähneknirschend – da auch bei einer Rock’n’Roll-Band der „Lebenslauf“ entscheidend ist-eine Nachmittagsshow auf der Hauptbühne vor. Doch The Hives wären nicht eine der großartigsten Livebands unserer Zeit, könnten sie nicht auch unter diesen Umständen ein grandioses Konzert spielen: Stimmungsvoll beleuchtet von der Abendsonne, verausgaben sich die Fünf auf einer Bühne, die endlich groß genug für Pelles Ego ist. Was bei Fans im Anschluss das Gesprächsthema Nummer eins ist, lässt sich schwer eruieren: Sind es neue Songs wie „Bigger Hole To Fill“ und „Tic Tic Boom“? Oder doch Pelles Entscheidung, das halbe Konzerte mit nacktem Oberkörper über die Bühne zu turnen?

Arctic Monkeys: Auch wenn ein vernunftbegabter Programmverantwortlicher die Sheffielder Jungs nachts auf der Alternastage und nicht etwa nachmittags auf die Center Stage gestellt hat, wird doch schnell deutlich: Arctic Monkeys sind nicht am Ring, um irgendetwas zu gewinnen – Publikumspreis, den größten Zugabenapplaus o. ä. Dafür gehören sie zu den seltenen Bands, die etwas beweisen wollen. Nämlich: Es geht auch hier, in diesem Animationszirkus der Reizüberflutung, alleine mit Musik. In einem höllentighten, sperenzchenfreien Set, in dem sich die Songs eng aneinander reiben, bis völlig egal ist, was vom ersten und was vom zweiten Album kommt, was ein Hit ist und was noch einer werden könnte, überlassen die Monkeys die ganze Bühne ihrer Kraft, ihrer Schönheit, ihren Breaks, ihren Riffs, ihren Texten.

The White Stripes: Dieses Jahr übernehmen The White Stripes auf der Alternastage die Rolle von Sonic Youth 2005: die der anderen Rockband. Im Vergleich zu all den gleich aussehenden und gleich klingenden Indierockern kommt der Auftritt von Jack und Meg White einem Ereignis gleich. Auf der Bühne, die komplett in rotes Licht getaucht ist, ziehen diese beiden komischen Typen zu zweit ihre Anti-Blues-Rock-Show ab. Freilich fehlt da bei manchem Song die zweite – im Studio overgedubbte – Gitarre, freilich liegt Meg White hinter ihrem Schlagzeug, das sie mit einer bezaubernden, liebreizenden Lässigkeit bedient, immer einen halben Takt neben dem Beat. Richtig spielen, das tun die anderen. Dafür haben die White Stripes die Hits: „Hotel Yorba“, „My Doorbell“, Dolly Partons „Jolene“. Und „Seven Nation Army“, mit dem irgendwann keiner mehr rechnet, kommt dann doch noch zum Schluss.

Charlotte Hatherley: Charlotte feiert in der Eifel Familientreffen. Sie trifft ihre Schwester Beatrice, die Bass bei Zoot Woman spielt. Leicht hat es die ehemalige Ash-Gitarristin live im Coca-Cola Soundwave Tent nicht, denn die Pumpkins spielen zur gleichen Zeit. Macht nichts, ein Festival mit über 80.000 Menschen wirft immer noch mal eben 3000 oder 4000 Neugierige für die kleinste Bühne ab. Außer allgemein guter Stimmung gibt das nur leider nicht viel her. Die Leute kennen ihre Platte(n) nicht, und Charlotte und ihre eigentlich ziemlich gute Band rockpoppen leider etwas unspektakulär.

Der Generationswechsel läuft: Die Alternativrockbands der 90er, die vor zehn Jahren abends noch Zeit hatten, sich Headliner wie Supertramp und Kiss anzuschauen, sind die R’n’R-Headliner der 00er Jahre. Dass mit bis zum Rand gefüllten Hasstanks angereiste Metalverwurster wie Korn oder Linkin Park diesen Job mit einer sehr kühlen Professionalität erfüllen, die schon seit Jahren Headlinerqualitäten hat, ist bekannt. Aber auch Muse z. B. können inzwischen perfekt mit einem 20.30-Uhr-Gig auf der CenterStage umgehen. Und die Pumpkins…?

DIE ALTERNDEN HELDEN: Smashing Pumpkins: Billy Corgan hat also seine Band wieder (siehe ME 7/2007). Dem Fan bringt das genauso viel wie der nächtliche Auftritt von Guns N‘ Roses 2006: damals der Axl mit Rastas, heute der Billy mit Glatze. Beide sonnen sich im alten Liedgut (nun, Corgan hat zumindest eine Reunion-Platte draußen und spielt fünf neueTitel). Nur muss es der Billy dann noch übertreiben, indem erden Ex-Scorpion Uli Jon Roth zum gefühlten ewigen Schlussakkord auf die Bühne bittet. Das Rockgniedeltum feiert Urstände am Ring. Uff.

Travis: Mit The Boy With No Name melden sich Travis zurück auf den Festivalbühnen und finden hier immer noch einen feinen Sonntagabendplatz auf der Alternastage für sich vor. Treue gibt es auf beiden Seiten: Auch auf ihrer neuen Platte sind die Songs wieder weich und eingängig, da wird die Seele gestreichelt und aus dem Herzen gesprochen. Die Band selbst ist wie immer betont freundlich und schüchtern, und sie spielt ein fanfreundliches Potpourri ihrer fünf Alben, ohne sich groß mit der Vorstellung neuer Stücke (drei bleiben es) aufzuhalten: angefangen bei dem Klassiker „All I Want To Do Is Rock“ über „Sing“ bis hin zu „Why Does It Always Rain On Me“ natürlich. Ein Konzert, das man sich sogar ungestraft im Sitzen anschauen darf.

Schön bunt gemacht werden die Festivals „Rock am Ring“ und „Rock im Park“ 2007 von Kapellen, die weder ausgesprochen „Indie“ sind, noch mit dem Metal-Hammer irgendwo drauf hauen (rund 30 Bands tun letzteres, und das tut irgendwann richtig weh!)…

DIE HELDEN EIGENER KLASSE Wolfmother: Die Sonne scheint der Band direkt ins Gesicht, als die ersten Akkorde erklingen. Das ist zwar irgendwie rockfeindlich, aber: Dieser Sound gehört auf diese riesige Bühne, kein Zweifel. Lockenkopf Andrew Stockdale baut auf irrwitziges Hard-Rock-Posing und haut mit Verve seine Gitarrensoli raus. Das schaut zwar aus wie eine einzige große Übertreibung, aber Stücke wie „White Unicorn“ können eigentlich gar nicht überdosiert werden. Die Zeit reicht für sieben Songs vom Album und „Pleased To Meet You“ vom Spiderman-Soundtrack. Noch vor ihrem finalen Hit.. Mother“ hämmert Bassist Chris Ross so sehr auf seine Orgel ein, dass sie mitsamt dem Ständer zu Seite kippt. Da spielt er eben im Liegen weiter. Geiler Rockzirkus aus einer anderen Zeit ist das.

Billy Talent: Die aktuell unverschämt erfolgreichen Kanadier stehen zwar nicht unbedingt für eine eigene Liga-emotionales Derbzeug, welches sich irgendwo zwischen Hardcore und Rockpop an maximalem Ausdruck bei einprägsamer Melodiösität versucht, hat anhaltend Hochkonjunktur (und gerade der Alternastage-Auftritt von My Chemical Romance versprüht dabei so einigen Superstarflair, Leute!). Und doch wird der Auftritt von Billy Talent als auf seine Art besonders in Erinnerung bleiben: Das Hymnische in ihrer Musik bekommt ja anderswo gerne mal etwas abgeschmacktes; hier aber, vor dieser bis in die letzte Reihe entfesselten Menschenmasse, rührt einen das an, wenn Sänger Benjamin Kowalewiczs Augen leuchten wie die seines Publikums. Diese Jungs sind selbst ganz begeistert. Und man kann das richtig spüren.

Jan Delay & Disco No.1: Mit seiner musikalischen Mischung steht der Mann völlig alleine auf diesem Festival da – und das unter immerhin fast 100 Bands! So ist es wohl das beste, mit der fettesten (small Big) Band und dem feistesten Grinsen sein eigenes Ding einfach durchzuziehen. Der Jan funkt und soult nicht nur von der eigenen Platte, erhaut in Medleys und Bastard-Raubzügen („Ain’t No Other Man“, „Word Up“, „Push It“ usw. schleudern uns Jan, Band und drei Chormädels um die Ohren wie nasse Handtücher) das geilste „Popgeballer“(O-Ton Delay) des gesamten Festivals raus (anders als die hier draußen im Freien und Kühlen ziemlich blassen Scissor Sisters zwei Tage später…).

Die Ärzte: Auf neue Songs warten die Fans vergeblich, die „beste Band der Welt“ lässt bei ihrer Kür nicht durchblicken, wie es ums neue Album steht. Gespielt wird dafür alles, was auch gut auf ein Best-Of-Album passen würde(und sogar ein bisschen mehr). Farin wirkt zuweilen etwas müde, dafür dreht Rodrigo auf, lässt bei keinem Song das Kiss-Posing aus und spielt seinen Bass über und hinter dem Kopf. Gags gibfs nicht nur fürs Publikum, sondern auch für die Bandmitglieder selbst Bei Rods Solonummer „Dinge von denen“ tauchen Bela und Farin verkleidet als fette Superhelden („Fatbat“ und „Supersized Hero“) auf und bringen ihn komplett aus dem Konzept. Bei Belas „Der Graf“ pirscht sich Farin von hinten mit einer Graf-Zahl-Handpuppe an. Und auch vor der Bühne ist durch die Anweisungen zu Rückwärts-, Seitwärts- und Sitz-La-Olas alles unter Kontrolle. Der ganze übliche Ärzte-Aberwitz eben. Nach mehr als zweieinhalb Stunden überweist Urlaub die Fans dann zu „Wir sind Eltern“ hinüber zur Alternastage.

Wir sind Helden: Wer ein generelles Problem mit Wir sind Helden, ihrer Freundlichkeit und der Niedlichkeit ihrer Sängerin hat, sollte vielleicht später rüber ins „Club Tent“ gehen, die garantiert unniedlichen Megadeth gucken. Wer keine Probleme mit Judith und den „Jungs“ hat, erlebt einen sehr unterhaltsamen Abend, dessen Reiz auch darin liegt, dass Wir sind Helden jetzt auf einen Liederfundus aus drei Alben zurückgreifen können. Manche aus von hier an blind und dem neuen Album soundso ergeben erst im Rahmen dieses Greatest-Hits-Programms richtig Sinn. Andere – vielleicht dein Lieblingslied – spielen sie überhaupt nicht. Die wichtigste Frage wird allerdings erst nach RaR geklärt: „Erdbeben durch Hüpfen?“ Zusammen mit dem Wissenschaftsmagazin „Quarks & Co“ und dem Geoforschungszentrum Potsdam führen die Helden ein Experiment durch. Die 50.000 Zuschauer sollen gleichzeitig in die Luft springen und ein kleines Erdbeben erzeugen. Zwar, heilst es später, war das „Erdbeben“ noch in einem Kilometer Entfernung messbar, allerdings seien die Schwingungen, die von den Basslautsprechern ausgingen, stärker gewesen, www.rockamring.de