Rock bis zum Morgengrauen


Das größte Rockspektakel in der Fernsehgeschichte ist gelaufen. Und dessen Urheber war zur Überraschung lausender fernsehmüder Roekfreunde niemand anders als die sonst doch so schlafmützige ARD. Mehr als das: der europaweite Nachhall des mitternächtlichen Paukenschlages rüttelte die TV-Bosse nachhaltig aus ihrem musikalischen Dornröschendasein: In einem halben Jahr, so war zu hören, steht uns schon die nächste öffentlich-rechtliche Rocknacht ins Haus. Kein Wunder. SchliefMieh hatten Rory Gallagher. Little Feat und Roger McGuinn allein in der BRD an die drei Millionen Jugendliche bis zum Morgengrauen vor der Mattscheibe gehalten. Das „Rockpalast-Festival“ geriet zu einem fiineinlialbstündigen Qualitäts-Marathon mit atemberaubendem Endspurt – wenn auch nicht ganz ohne Pannen. Für den Musik Express blickte Werner Zeppenfeld in der Essener Grugahalle vor und hinter die Kulissen.

Die Idee zum spektakulären lernsehfestival wurde im April vergangenen Jahres geboren, im Verlaufe einer durch/echten Nacht. Du hatten die beiden geistigen Väter des“.Rockpalastes“ ,^susammehgesessen: Regisseur .Christian Wagner (2f>) und „/Redakteur l’eter Küchel (40). Die unermüdlichen Vorkämpfer eines rockorieniierten Fernsehprogramms halten schon geraume Zeil nach Möglichkeiten gefahndet, zusätzliche .Sendezeil loszueisen um einmal mehr bieten zu können als die allmonatlichen, halbstündigen Konzertbruchstücke im regionalen Rockpalast.“.Normalerweise kommen einem ja die Stammtisch-Ideen vom Vorabend am nächsten Morgen gar nicht mehr so genial vor“, erinnert sich l’eter Küchel. …Aber diesmal war das anders. Ich bin gleich zum Leiter des WDR-l amilienprogramms gegangen, der hat die Fernsehprogrammkonferenz überzeug); und als Werner Höfer dann noch einen Sonderetat lockennachte, war die Sache schon gelaufen.“ So einfach geht das also warum kam blob früher niemand auf die Idee? fe^Daß sich die Realisation des Festivals dann noch 15 Monate hinzögerte, hatte seine Gründe. Ursprünglich war die Rocknacht nämlich vorgesehen als Programmfüller zwischen Sendeschluß und frühmorgendlicher Boxweltmeisterschaft. Aber dann schoß Muhammad Ali quer, zunächst mit einem Rücktritt und später mit diversen Kämpfen jener Kategorie, die keinen Bundesbürger nachts um halb vier aus den Federn reißt.

Relativ rasch war die „Rockpalast“-Mannschaft sich auch darüber klar geworden, daß man keineswegs mehr als drei Gruppen engagieren würde, um diesen erstmalig die Gelegenheit zu bieten, sich vor einem Millionenpublikum voll auszuspielen. 15 Hauptgruppen kristallisierten sich mit der Zeit aus dem umfangreichen Wunschzettel heraus, unter anderem Crosby, Stills & Nash, Neu Young, Bob Seger, die Beach Boys und John Lennon. Der vorgesehene Sendetermin erwies sich aber als reichlich ungünstig. Sommertourneen und Open Air-Konzerte besonders in den Staaten, Studioverpflichtungen für’s Weihnachtsalbum, Urlaubspläne der Musiker und sonstige Widrigkeiten ließen die Liste im Laufe der dreimonatigen Verhandlungen rascli schrumpfen. Beim einen oder anderen mag auch Angst vor der Unbestechlichkeit der Kamera im Spiel gewesen sein: Chris Hillman etwa, der als Überraschungsgast noch in den rollenden TV-Expreß steigen sollte, um mit Roger McGuinn zu jammen, sprang im letzten Augenblick wieder ab — er sei „doch nicht so ganz in Form“ teilte er mit.

Rory Gallagher, Little Feat und Roger McGuinn jedenfalls waren Feuer und Flamme — was Wunder bei solcher Gratispromotion? Dafür allerdings traten sie faktisch auch umsonst auf. Die etwa 100 000 DM, die die ARD an Gagen auswarf, wurden mehr als aufgefressen durch die enormen Reise- und Frachtkosten. Der exklusive Transatlantik-Trip von Little Feat etwa war so kostspielig, daß die kalifornischen Warner Bros, wohl eine fünfstellige Dollarsumme drauflegen mußten, um die Expedition zu ermöglichen. Der Werbeeffekt wurde offenbar so hoch eingeschätzt, daß keine Plattenfirma Bedenken anmeldete wegen der zu erwartenden millionenfachen Bandmitschnitte vom Fernsehoder Radiogerät. Und das will schon was heißen bei Gruppe wie Little Feat, die mit Bootlegs schon arg genug gebeutelt worden sind.

Kurz vor Toresschluß nahm das 350 000 DM-Spektakel dann multinationale Züge an. Im Eurovisionsrahmen klinkten sich die Fernsehprogramme in Österreich, Dänemark, Norwegen und Schweden voll ins Fünfstundenprogramm ein. Irland strahlte den Auftritt von Lokalmatador Gallagher live aus, und Jugoslawien und Portugal zeichneten zur späteren Verwendung auf. Spätestens damit katapultierte sich die Regionalsendung „Rockpalast“, die es in NRW auf durchschnittlich 400 000 bis 600 000 Zuschauer bringt, hoch in die Millionen-Einschaltquote. Nach Spitzenwerten von etwa vier Millionen Zuschauern harrten nach WDR-Schätzungen allein in der BRD über eine Million Jugendliche bis zum Morgengrauen vor der Mattscheibe aus — zusätzliche Radiohörer gar nicht eingeschlossen. Dabei war jeder vierte bundesdeutsche Jugendliche. Die Erwartungen der Programm-Macher wurden glatt erfüllt und all jene Ewiggestrigen Lügen gestraft, die den Bildschirm allein für den großen Schlagerschlamassel reserviert wissen wollen.

Als die Kameras endlich Rory Gallagher ins Bild holten, standen die Fans längst auf den Stühlen

Daß Rory Gallagher der umjubelte Star der heißen TV-Nacht werden würde, stand im Grunde von vornherein fest — allen Bemühungen der Veranstalter zum Trotz, Little Feat zur Hauptattraktion zu stilisieren. Die Reaktion des Vor-Ort-Publikums in der Essener Grugahalle ließ keinerlei Zweifel daran aufkommen, wer hier „Top of the Bill“ war und wer nicht. Eine Grugahalle übrigens, die nur gut zur Hälfte besetzt war (Peter Rüchel: „Wir machen uns ja schließlich selbst Konkurrenz“) — eine Tatsache, die durch geschickte Kameraführung bei der Übertragung kaschiert wurde. Die fünftausend von der guten Atmosphäre mächtig angetörnten Konzertbesucher sorgten allerdings für eine schier umwerfende Geräuschkulisse — wenn die Musik ihren Stimmungsnerv traf. Und da hatte Rory Gallagher nicht die geringsten Startschwierigkeiten. Nachdem ein belgischer Bluesbarde die Stimmung zusätzlich aufgewärmt hatte, langte die Rory Gallagher-Band um Punkt 22.05 Uhr voll in die Saiten. Als Nullnummern vor dem Zuschalten der Fernsehkameras knallte sie dem Publikum ein Programm hin, das sonst eher für Zugaben gut ist: „Messin‘ With The Kid“, „I Take What I Want“ und „All Around Man“.

Klar, daß die Fans längst auf den Stühlen standen, als sich bei „Moonchild“ die millionenfache Fernsehgemeinde dranhängte. Auch an dem kurzbeinigen Kumpel aus Cork, der zuvor einen wahren Veitstanz auf der Bühne aufgeführt hatte, ging der Publikums-Zuwachs nicht ganz spurlos vorüber. Im Angesicht des größten Live-Publikum seines Lebens klang die Stimme des abgebrühten Rock-Profis anfangs eigentümlich belegt. Spätestens beim Solobreak von „Do You Read Me“ aber hatte er sich wieder voll gefangen, und „Calling Card“ rollte bluesiger denn je aus den Boxen. Rory Gallagher, 28jähriger Schwerstarbeiter an der Stratocaster, bewies einmal mehr, daß er seinen blueslastigen frühsiebziger Rock’n‘ Roll durch alle Fährnisse musikalischer Trendentwicklung hat hindurchmanövrieren können, ohne auch nur eine Unze an Popularität einzubüßen. Und auch seine Band mit Lou Martin (keyb), Rod De Ath (dr) und Gerry McAvoy (b) steht seit 1972 wie ein Block. Mit neuem Material wurden die Essener Fans nicht überrascht, obschon Rory ankündigte, daß demnächst ein weiteres Bandalbum eingespielt würde; danach wolle er sich mit einem Soloprojekt befassen, das hauptsächlich akustisches Material enthalten soll.

„Essen-Barmbek grüßt Rory Gallagher“

„Western Piain wurde mit Pfiffen bedacht, und beim „Barley And Grape Rag“ rührte sich kaum eine Hand zum Mitklatschen. Offensichtlich war Gallagher am Anfang zu heiß eingestiegen. Spätestens bei „Secret Agent“ wurden aber wieder begeisterte Transparente geschwenkt („Essen Barmbek grüßt Rory Gallagher“) und bei „Souped Up Ford“ tobte die Halle wie nie zuvor. Eine Zugabe nur war laut Sendefahrplan vorgesehen (der „Bullfrog Blues“). Durch das unüberhörbare Plebiszit des Essener Fan-Volks allerdings kamen auch die Daheimgebliebenen in den Genuß einer musikalischen Extrawurst:

Gallagher mußte noch „Bought And Sold“ ablassen.

Zwei Landfunk- redakteure auf der Suche nach der „election night“

Der erste Umbau bescherte der Saalbesatzung die übliche Pausenlangeweile. Jedenfalls schien der Produktionsetat nicht mehr dafür gereicht zu haben, in der Halle eine Monitorleinwand zu installieren, auf der man das Füllprogramm hätte verfolgen können, das den Zuschauern zuhause eingespielt wurde. Im Nachhinein neige ich zu der boshaften Vermutung, daß der WDR durch den faktischen blackout im Saal seinen beiden Moderatoren jene Publikumsreaktion ersparen wollte, die in den vier heimischen Wänden ungehört verhallen mußte: schallendes Gelächter nämlich. Denn was Albrecht Metzger und Hendrik Bussiek da allen Ernstes zusammenstammelten, mutete bisweilen an wie ein Gagprogramm von Otto: die beflissene Frage an Herrn Gallagher etwa, was denn junge Menschen heutzutage so am Gitarrespielen fasziniere, oder das stirnrunzelnde „Is that difficult?“ nach einer Bottleneck-Demonstration von Lowell George. Die Little Feat-Leute, offensichtlich in der Annahme, daß sich da zwei Landfunkredakteure in der Tür geirrt hatten, zogen die plappernden und keiner Übersetzung fähigen Nonsens-Interviewer denn auch ihrerseits nach Kräften durch den Kakao. Und dürften die Lacher auf ihrer Seite gehabt haben, zumindest im nichtdeutschsprachigen Ausland. Jedenfalls hallte mir das hemmungslose Gejohl der Rotte amerikanischer Roadies, mit denen zusammen ich im Gruppenaufenthaltsraum das peinliche Spektakel an der Mattscheibe verfolgte, noch stundenlang in den Ohren. Alle Welt schien schließlich dem Infarkt nahe, als der am Bühneneingang postierte Hendrik Bussiek dann auch noch ein endloses Sendeloch vor dem Little Feat-Auftritt mit der launigen Bemerkung zuzukleistern versuchte, er würde sich fühlen „like in an election night waiting for the winner“ worauf natürlich prompt irgendein Roadie-Kollege durchs Bild stolperte. Gleichwohl konnte der Pausenunfug dem Fünfstundenprogramm keinerlei nachhaltigen Abbruch tun. Schließlich war das Ganze „only rock’n roll“, wie man der Moderation mehrfach entnehmen konnte, als ihr zu guter Letzt gar nichts mehr einfiel. Zum Erfolg der TV-Nacht trugen sicherlich auch die eingespielten Konzertaufzeichnungen bei: Lovely Linda Ronstadt, live in Offenbach, Frankie Müler’s Füll House, Ry Cooder, Leo Kottke und als später Konservenhöhepunkt Tom Petty und seine Heartbreakers. Deren Powerpack, bestehend aus „Fooled Again“, „Strangered In The Night“ und „Anything That’s Rock’n Roll“ entschädigte allein schon mehrfach für all den Quatsch der Moderatoren.

Der Auftritt der eigens aus den USA eingeflogenen Band Little Feat mobilisierte im Saal erwartungsgemäß nicht die Euphorie wie bei Gallagher. Abwanderungsbewegungen der Hard-Rock-Mafia zum Trotz wurde Little Feats mit rhythmischen Vertracktheiten, improvisatorischen Finessen und parodistischen Einschüben gespickter, erdenschwerer Country-Blues aber beständig von wohlwollendem Applaus getragen. Neckisch wackelnde Riesenkakteen halfen recht gut über den stimmungsmäßig etwas flauen Mittelteil des Auftritts hinweg, und die Paradeversion von „Dixie Chicken“/ Triple Face Boogie“ (mit einem traumhaft swingenden Solo von Pianist Bill Payne) setzte dem Ganzen zum Schluß ein wahres Glanzlicht auf. Drei Zugaben wurden aus Zeitdruck en bloc gespielt: „Feats Don’t Fail Me Now“, „Willin“ und „Rocket In My Pocket“.

Hey, Mr. Tambourine Man

Daß der Auftritt von Roger McGuinn’s Thunderbyrd trotz Gallagher-Absahne, Morgengrauen und allgemeiner Publikumsmüdigkeit zu einem weiteren Festivalhöhepunkt geraten würde, war mir klar gewesen, seit ich den 35jährigen Ur-Byrd tags zuvor bei den Proben gesehen hatte. Souverän und locker zog Thunderbyrd ein Programm ab, das vor brillanten Vokalsätzen und blendender Gitarrenarbeit nur so strotzte, das Country- und Blues-, Pop- und Balladenelemente mühelos zusammenkochte — und sich dabei stets zum Rock’n Roll in seiner launigsten Spielart bekannte. Da konnte sogar Feat-Perkussionist Sam Clayton nicht widerstehen: auf halber Konzert-Strecke baute er seine Kongas auf und mischte mit. Schließlich war es ja auch kein weiter Weg vom „Dixie Chicken“ zum „Dixie Highway“. Und nach erster „Spaceman“-Nostalgie im Hauptprogramm folgten als Zugabe dann gegen halb fünf Uhr in der Früh jene drei mittsechziger Byrds-Standards, die dem ohnehin relativ alten Restpublikum unter die Haut gingen wie nichts in den mehr als fünf Stunden zuvor: „Turn Turn Turn“, „Mr. Tambourine Mann“ und „Eight Miles High“. Da stöberte keine abgehalfterte Musikerexistenz in der akustischen Mottenkiste, um aus dem Lorbeer von gestern heute nochmal Kapital zu schlagen. Nein,da träumte einer der wenigen wahrhaft genialen Überlebenden der Beat-Ära einen Traum, der mehr als nur sein privater ist: daß den Vögeln wieder Flügel wachsen mögen.

So einen Mittsommernachtstraum im Rockpalast könnte man öfter vertragen, war das einhellige Echo des Fernseh-Fan-Volks. Die ARD reagierte schnell. In einem knappen halben Jahr schon soll die Zweitauflage über den Äther gehen. Diesmal allerdings — der Jahreszeit entsprechend — als Wintermärchen.