Roskilde Festival ’84


Es war ein einziger Dreck. Nicht musikalisch, wohl aber in. Anbetracht der Bodenverhältnisse. Zwei von drei Tagen pißte es wie aus riesigen Bottichen – und das weite Festival-Gelände vor den Toren Kopenhagens glich im Nu einem einzigen Schlammbad. Die Wenigsten ließen sich jedoch von Wotans Rache abhalten: Immerhin fanden fast 60000 Fans den Weg zum 13. „Roskilde“-Treffen.

Das diesjährige Musik-Programm sorgte allerdings gleichfalls für wenig Sonnenschein. Leider. Obwohl sich das größte nordische Open-air-Spektakel in den vergangenen Jahren international einen Ruf erwirtschaftet hat, der nahezu jeden Top-Act anlocken dürfte, fehlten die wirklichen Stars. Bruce Springsteen war im Gespräch, aber sein Terminkalender erlaubte’s angeblich nicht. Desgleichen Nena. „Ves wären fein gewesen“, wie ein Verantwortlicher meinte? Die Alt-Herren aber waren kurz zuvor auf „dansken Tournee“ gewesen. Ebenso Jimmy Cliff.

Überhaupt fehlte Reggae, immer ein starker Programmteil, dieses Jahr gänzlich. Und die – trotz eines Lou Reeds – absolute Sensation, The Band aus USA, hatten schon eine Woche vorher ihr Comeback abgeblasen; die US-Väter sollen sich vor Tourstart band-intern in die Wolle bekommen haben. Robbie Robertson wäre eh nicht dabei gewesen.

Auch andere Zugpferde sagten kurzfristig ab: Paul Young hatte es plötzlich die Stimme verschlagen. Und The Smiths blieben fern, da Morrissey momentan physisch recht schlapp sein soll.

„Roskilde ’84“ – ein Reinfall also? Nicht unbedingt, das „nordische Woodstock“ befindet sich eher im Umbruch. Erstmals sah man sich mit einem verschärften, derart nie praktizierten Kontrollsystem konfrontiert. Die sonst so friedlichen, mehrheitlich bedröhnten Fans sind anscheinend nicht mehr so brav. Ausdruck von Frustration übers durchschnittliche Angebot? Die wirklichen Headliner müssen ran Lou Reed hätte einer sein können. Der Rock’n’Roll-Heroe startete auch äußerst vielversprechend. Vor der größten versammelten Zuschauermenge aller drei Tage: Sechzigtausend. Selbst der Himmel hatte sich aufgeklärt – rote Abendsonne zu Ehren von Lou!? Spröde und knochig wie auf den letzten drei Studio-LPs ging der 42jährige mit seiner Vier-Mann-Truppe zu Werke. Ein verhaltenes „Sweet Jane“ eröffnete die sparsame Show. Es folgten Songs neueren Datums: „My Red Joystick“, „Average Guy“. Als Kontrast zu den griffigen Gitarren-Riffs dann ein butterweiches Synthi-Intro: „Walk On The Wild Side“. Die Menge groovte sich ein, Lou aber bremste: „Satellite Of Love.“ Dann wieder etwas Dampf – der pumpende Baßlauf von Fernando Saunders drängte rein in „New Sensations“. Und hier hätte Onkel Lou Gas geben sollen. Doch eine lange Serie von halbgaren Songs schloß sich an. Die Stimmung verflachte. Da entschädigte es auch nicht, daß Lou & Co. gegen Konzertschluß nochmals richtig in die Saiten griffen.

Ganz anders The Alarm aus Wales. Das ehrgeizige Rock-Quartett brachte mit seinen energischen Gitarren-Sounds augenblicklich Leben und Bewegung in die unterkühlte Menge. Da hielt selbst ein steifer Wolkenbruch nicht vom Mitsingen ab.

Auch Gnags, die Lokal-Matadoren überhaupt, wußten ihre Fans bei Laune zu halten. Die Dänen spielten bereits Freitagnacht unterm orangefarbenen Haupttribünenzelt, da man gerade auf größter Erfolgs-Welle durch Dänemark tourt und andere Termine sich am Samstag anschlössen. Über zwei Stunden rockten Gnags durch alte und neue Songs, immer wieder angetrieben vom blonden Bandchef Peter Nielsen. So sollte Live-Musik sein.

Zuvor hatten Killing Joke mit glasklarem Powersound die kühle Nachtluft aufgerissen. Sänger Jaz Coleman forcierte das Tempo, eine dämonische Atmosphäre legte sich übers zunächst verharrende Publikum.

Da waren die abgegriffenen Blues-Riffs und R&B-Soli von Johnny Winter längst vergessen. Routiniert und recht ausgelutscht hatte der alte Haudegen vom Brett gezogen. Ein Rentner gegenüber einem Stevie Ray Vaughan, den man gerade in diesem Moment in Roskilde vermißte.

Vielleicht reizte gerade das einen Fan, den Veteranen aufs Korn zu nehmen: Eine Flasche „Tuborg“, der Johnny nicht schnell genug ausweichen konnte, führte zum vorzeitigen Abbruch.

Traditionellen Rock mit Chuck Berry/Keith Richards-Licks und modernes Tempo wußten da viel besser Telephone aus Frankreich zu kombinieren. Die Franzosen feierten am Freitagabend im Rhythmuszelt einen solchen Erfolg, daß man sie kurzfristig am Sonntag aus Luxemburg für eine attraktive Zugabe auf der Hauptbühne zurückholte.

Ein Triumph, den weder Ina Deter (kam nur mit Hilfe der großen deutschen Fraktion zu einem beachtlichen Applaus) noch Paul Butterfield (featuring Chuck Leavell und Hugh McCracken) oder New Order (die druckvoll und solide starteten) für sich verbuchen konnten.

Von der dänischen Rock-Garde wußten neben Gnags am besten Anne Lin & Marquis de Sade zu überzeugen. Eine auffallende Bühnenoptik, zwei blonde Chor-Damen mit viel blanker Haut und ein frisch gespielter Mix aus Pop, Funk und Rock weckte neue Lebensgeister. So brachte die blonde Rock-Lady am Samstag weit nach Mitternacht die hartnäckigen Fans in neuen Schwung. Ein riesiger Ansturm drängte ins Rhythmus-Zelt. Klar, ansonsten herrschte schon allerorten tote Hose.

Selbst die Folk-Freaks hatten sich längst auf die Matraze gehauen. Ihnen war sowieso nur einmal richtig eingeheizt worden: vom Duo Poul Dissing & Peter Thorup. Die beiden Dänen spielten ihre große Vergangenheit aus. Und die reicht weit. Weiter als bei vielen akustischen Saitenzupfern, die nur knapp „Seven Drunken Nights“ überstehen…