Russki Rock


Seit zwei Jahren gärt es im Arbeiter- und Bauernstaat. Die Rockmusik gärt kräftig mit. Und: Was bislang nur zwischen Riga und Odessa brodelte, überwindet inzwischen auch die Grenzen. Ost-West-Festivals sind in der Planung, Tourneen dies- und jenseits des Eisernen Vorhangs keine Utopie mehr. ME/Sounds-Mitarbeiterin Martina Wagner, mit einem russischen Rockmusiker verheiratet, gibt einen ausführlichen Lagebericht von der musikalischen Front.

Rußland im Frühjahr ’88: „Habe keine Angst“, belehrt uns ein Plakat auf Moskaus Oktoberplatz in zwei Meter hohen Lettern. „Habe keine Angst, mutig vorwärts zu gehen, Risiken zu tragen und Verantwortung zu übernehmen!“

Vis-a-vis vom Kreml, in der Ausstellungshalle „Manege“, findet ein Musikspektakel mit einer „New-Wave-Show“ statt. Auf der Bühne: „Weschliwij Otkas“. Juri Tsarov am Piano pfeift ins Mikrofon, ein anderer spielt mit den Gängen einer Bohrmaschine, ein dritter sägt auf einem umgedrehten Cello.

Dem Ereignis folgt eine Diskussion. Ein älterer Herr macht den Anfang: „Kann man das ah Musik Dahin sind Drill und Konformismus. Der neue Sowjet-Mensch entdeckt die individuelle note.

bezeichnen und wenn ja, auf welche kulturellen Traditionen stützt sie sich?“

Juri Tsarov übernimmt die Aufgabe, die „musikalischen Anarchisten“ zu verteidigen: „Es gibt eine Vielzahl von Traditionen, aber sie sind nicht unsere. Wir müssen unsere eigenen, persönlichen Traditionen schaffen. „

Was für westliche Beobachter eher rührend anmutet – die öffentliche Diskussion über das musikalische Verständnis und die politische Relevanz – ist ein wichtiges Indiz für die neue Akzeptanz der Rockmusik. Die Öffnung der Kulturpolitik unter Gorbatschow hat die lange totgeschwiegene Rockmusik mit einem Schlag in den Blickpunkt der Öffentlichkeit gerückt.

Werfen wir einen Blick zurück: Die ersten Rockbands entstanden in den späten 60ern. Anglo-amerikanische Vorbilder aufgreifend, spielte man für private Zirkel – weit davon entfernt, offiziell anerkannt oder gar auf dem staatlichen Monopol-Label „Melodija“ veröffentlicht zu werden.

Eine der ersten Bands war „Aquarium“, vor mehr als 15 Jahren in Leningrad gegründet. Der legendäre Sänger und Gitarrist Boris Grebenschnikow erinnert sich: „Wir saßen mit einem Tonbandgerät vor dem Fernseher und warteten auf die sowjetische Propaganda über den dekadenten Westen. Da wurde dann auch als abschreckendes Beispiel Rock’riRoll gespielt, den wir natürlich auf Tonband mitschnitten. Natürlich hörten wir auch die verbotenen Feindsender ab und bekamen Cassetten von westlichen Touristen geschenkt.“

So entstanden die ersten Gruppen, die einerseits versuchten, möglichst exakt die westlichen Vorbilder zu kopieren, andererseits schon die ersten Gehversuche in die Richtung einer eigenständigen Musik zu machen.

„Maschina Wremeni“ (die Zeitmaschine) und „Rossijani“ waren die Mitbegründer einer nationalen Rockpoesie und wurden, neben „Aquarium“. Kultbands der russischen Flower-Power-Bewegung.

Da das staatliche Schallplattenlabel diese Musik nach wie vor boykottierte, entstand zwangsläufig der sogenannte „Tonband-Rock“: Man nahm die Musik selbst auf. kopierte sie und verteilte sie im Bekanntenkreis.

Obwohl die Behörden beim „Ersten sowjetischen Rockfestival in Toilissi“ 1980 einige Gruppen offiziell anerkannten, war die liberale Geste eine Farce, denn gleichzeitig durften viele, die zuvor noch gewisse Freiräume besaßen, nicht mehr auftreten, u.a. die Gruppe „Aquarium“.

Im September 1981 geißelte die Regierungszeitung „Iswestija“ den „verderblichen Einfluß bourgeoiser Kultur und die blinde Nachahmung westlicher Mode-Erscheinungen.“ Rockmusik sei „eintönig, banal und ästhetisch bedenklich. “ Nach einen Dekret der KPdSU vom Juni ’84 wurde eine „schwarze Liste“ von ausländischen und inländischen Bands erstellt. Die meisten dieser Gruppen kamen aus dem besonders suspekten Bereich des Punk-Rock: die Ramones mit ihrer LP ROCKET TO RUSSIA, die Sex Pistols. The Clash, aber auch die alte Garde unter den Rockmusikern traf der Bannfluch: The Who. Pink Floyd und UFO. Depeche Mode und Julio Iglesias (!!!). aber auch Gruppen, deren Namen für Russen schlichtweg provozierend war: Deutsch Amerikanische Freundschaft, KGB u.a.

Noch größere Unruhe aber lösten bei den Jugendfunktionären die einheimischen Rockgruppen aus. Über die moralische Verdorbenheit und das „wilde Gebrüll“ der Moskauer Band „Primus“ äußerte sich die „Komsomolskaja Prawda“ (Mai ’84): „Wir sind verantwortlich für den ideologischen Gehall und die Volkstümlichkeit eines Liedes. Aber was kann man zu solchen Verszeilen sagen:

„Sie mag’s, das ist doch klar/wenn sie scharfe Hosen trägt. Dann kitzeln sie die heißen Blicke/sie fühlt sich unterhalb begehrt.

Sind diese Verse nicht einfach kulturlos und gemein?“

Gegen das verbotene Abspielen der oben erwähnten in- und ausländischen Platten unternahm der staatliche Jugendverband „Komsomol“ musikalische Patrouillen: Dutzende Discos in allen Sowjetrepubliken wurden wegen ihres „niedrigen künstlerischen Niveaus“ geschlossen. Unter der Leitung des 1984 gestorbenen Generalsekretärs Jurij Andropov erreichte die Kampagne ihren Höhepunkt. Rockfans und Musiker wurden sowohl von der Presse als auch vom KGB rüde Volkerverständigung Hautnah taucht unsere Autorin Martina Wagner in die russische Musikszene ein. Die Ex-Freundin von Ärzte-Gitarrist Farin studierte am Osteuropa-Institut der FU Berlin Russisch. Fünf Monate lang erweiterte sie ihre Kenntnisse am Moskauer Puschkin-Institut und beschäftigte sich intensiv mit Rock in der UdSSR. Unser Foto zeigt sie mit Sascha, dem Vorsitzenden des Moskauer Rock-Clubs.

attackiert und untergebuttert.

Mit dem Amtsantritt Gorbatschows änderte sich die Situation schlagartig: Gab es in den Jahren 83/84 bestenfalls geheime Auftritte in Privatwohnungen und Hinterhöfen, öffneten jetzt sogar die Zentren der staatlichen Jugendorganisation „Komsomol“ ihre Pforten. Immerhin 12 offizielle Rockclubs („Rocklaboratorien“ genannt) existieren inzwischen in der Sowjetunion, natürlich vom Komsomol betreut: Sie stellen Equipment. bieten Auftrittsmöglichkeiten und betreuen den Nachwuchs. Eine Jury entscheidet bei Wettbewerben über die Vergabe von Profilizenzen – ein absolutes Muß, um professionell arbeiten zu können.

Alexander Jakowlew. ZK Sekretär für Kulturfragen, sprach 1986 vor versammeltem Zentralkomitee: „Genossen und Genossinnen, bei uns bestehen zur Zeit keine Vorbehalte gegen jedwede Art von Kunst, ob das Surrealismus ist oder Rockmusik.“

Seitdem wird die Jugend mit Konzerten und anderen Veranstaltungen geradezu umworben. War es bislang an der Tagesordnung, unliebsame Veranstaltungen durch Stromabdrehen einfach zu beenden, passen sich die Verantwortlichen dem von oben verordneten Kurswechsel – wenn oft auch nur widerstrebend an: Der „Komsomol“ sponsort Break-Dance-Wettbewerbe in Discotheken, jugendorientierte Zeitungen bringen Artikel über einheimische und westliche Bands, die neuerdings sogar im staatlichen Fernsehen zu sehen sind!

Fast pünktlich zum 25. Dienstjubiläum feierten die Beatles Premiere auf russischen Bildschirmen. Die Nachrichtenagentur TASS trägt sich mit dem Gedanken, künftig Fernsehprogramme mit dem amerikanischen Musiksender MTV auszutauschen. Die im Sommer des vergangenen Jahres nach kapitalistischem Muster eingeführte sowje

Andropov ließ Rockmusiker und Fans vom Geheimdienst KGB rüde attackieren

tische Hitparade soll künftig auch in einer englischen Version in amerikanischen Radiostationen angeboten werden.

Auch der Ruf nach mehr Wirtschaftlichkeit wird im Musikbereich immer lauter. Auf harte Kritik stößt das veraltete Marketing-System der staatlichen Konzertagenturen: Rus-, Mos-, Len- und Goskonzert. die die Tourneen der Bands für die gesamte Republik organisieren und (auch Verträge mit Konzertagenturen im Ostblock, inzwischen auch mit dem westlichen Ausland abschließen), erweisen sich als unfähig, neue Strömungen zu registrieren. Neben Ausnahmen wie ÜB 40. Chris Rea und den Scorpions werden eher Gruppen nach dem Geschmack der alten Funktionäre ausgesucht: Albano und Romina Power. Demis Russos, Umberto Tozzi.

Das Fehlen eines profitorientierten Marketing-Konzepts wirkt sich mitunter verheerend aus: Tourneen sind meist Verlustgeschäfte, weil die Organisation stümperhaft ist. Jüngstes Beispiel an Fehlplanung war das (für Ende März angesetzte) Anti-Drogen-Festival mit Rock- und Popgrößen aus aller Welt: Nachdem sich die sowejtischen Veranstalter nicht über Anzahl und Bezahlung der Gruppen einigen konnten, mußte das Festival in letzter Minute abgesagt werden.

Aber alles soll besser, d. h. professioneller werden. Auch die Vinylressourcen sollen konsequentergenutzt werden: Im Bereich der Plattenproduktion soll die Planwirtschaft rentabler arbeiten. Dauerte es früher bis zu einem Jahr, um eine Single zu pressen, geht es nunmehr schon in drei Monaten. Obwohl die Kapazitäten begrenzt sind, sind die staatlichen Plattenproduktionen durchaus auf westlichem Standard.

Das erste fortschrittliche Projekt von „Melodija“ war der Plattenvertrag mit den Rockveteranen „Aquarium“. Und siehe da: Die Verkaufszahlen überschritten innerhalb weniger Wochen die Millionengrenze. Die LP-Pressungen der früher nur in der Szene bekannten Gruppen wie „Bravo“, „Schwarzer Kaffee“ und „Avgust“ erreichten ebenfalls respektable Auflagen. Auch Lizenzgeschäfte mit westlichen Firmen werden immer beliebter: In sowjetischen Plattengeschäften sind u.a. The Doors. Chris Rea. Modern Talking und ÜB 40 problemlos zu erhalten.

Die Manager des staatlichen Monopollabels haben erkannt, daß mit Musik auch Geld zu machen ist. Artem Troitsky. ein Musikjournalist, äußert sich kritisch: „Meine Sorge ist. daß die kommerzielle Verlockung die innovativen Kräfte der sowjetischen Musik zur Strecke bringt.“

Die Vergabe von Profihzenzen, über das „Rocklaboratorium“ stößt auf harte Kritik. Michail Sigalow, gefragter Produzent und einflußreicher Musikjournalist, hält

das Auftreten von Bands vor Funktionären für eine üble Posse: “ Weißt du, woran mich der Laden erinnert: an die Mafia! Allen voran die Leiterin Olga Apretnaja.“

Die resolute Dame war bis zum Ausbruch des kulturellen Frühlings Mitautorin der „Schwarzen Listen“. Noch im März ’88 wurde das Ziel des „Rocklab“ in der Presse so umschrieben: „… den schädlichen Tonband-Rock auszusondern und die Musiker umzuerziehen. „

Wen wundert’s da, daß sich viele Bands von diesem staatlichen Kontrollorgan distanzieren. Auch die Mitglieder der etablierten Clubs scheren neuerdings aus und versuchen es auf eigene Faust.

Die alte Definition vom Untergrund trifft seit Anfang 1986 nicht mehr zu. Früher arbeitete alles, was nicht offiziell auftreten und produzieren konnte, zwangsläufig im Untergrund. Inzwischen gibt es genügend Auftrittsmöglichkeiten, und selbst von staatlichen Bühnen dürfen jetzt schräge Töne erklingen. Stilistische Ressentiments gibt es kaum noch. Früher verbotene Texte über den sozialistischen Alltag werden (bei der für einen Live-Auftritt nach wie vor obligatorischen Vorlage beim bezirklichen Kulturamt) anstandslos genehmigt. Bis auf „einige“ Ausnahmen: Pornographie, Drogen, Afghanistan und „Antisowjetismus“ – im Zweifelsfalle ein sehr dehnbarer Begriff!

Der Monopol-Anspruch des konservativen Komponistenverbands ist jedenfalls gebrochen; es gibt sogar schon Einzelkämpfer, die sich als Manager versuchen. Leicht hat es diese neue Generation von Journalisten. Musikern und Promotern allerdings nicht. Vom konservativen Bürokraten-Establishment werden ihnen immer noch dicke Knüppel in den Wea geworfen.

„Früher waren die Zeiten hard, jetzt sind sie heavy. “ Nach diesem Motto organisierten die HM-Fans ihren eigenen Club „witijasi“ (die Helden), der pro forma als Zweigstelle des „Rocklab“ deklariert wurde. In diesem Club werden eher autonome Ziele, weit über das Nachbeten abgehangener Metal-Trends hinaus, vertreten. Individualität wird großgeschrieben.

Der Großteil der hard & heavy-Fraktion ist allerdings eher unpolitisch. Die meisten kommen aus Arbeiterfamilien und benutzen Musik ausschließlich zum Dampfablassen.., Wenn wir ihnen diese Musik verbieten, werden sie ihre Aggressionen in einer anderen Form ablassen“, meint ein Mitglied des Komsomol lakonisch.

Die allgemeine Einschätzung der „Metallisten“ reicht von „emanzipatorisch, durchaus mit gesellschaftlicher Sprengkraft“, über „Radauhaufen“ bis zu „plumpe Herdenwesen, die nichts verändern.“ In der Presse werden sie – oft zu Unrecht – als Schläger und Störenfriede angeprangert. Schuld daran sind die Krawalle einer Jugendbande aus dem Moskauer Vorort „Ljubera“, die „Moskau von dekadenten Elementen säubern will“ und von konservativen Kreisen protektioniert wird.

Aber nicht nur Beamte und Polizeioffiziere, die um Macht und Position bangen, sehen einer entfesselten Jugendkultur mit Schrecken entgegen; auch eher liberale Persönlichkeiten verurteilen die Rockmusik, in der sie eine antinationale Strömung sehen. In einem offenen Brief an die „Prawda“ verurteilten sie unlängst die Rockmusik als „moralisches Aids“.

Die Parolen nützen wenig: Heavy Metal ist im Arbeiter- und Bauernstaat unaufhaltsam auf dem Vormarsch.

Auch wenn gerade Moskau eine HM-Hochburg ist, so ist ein musikalisches Spektrum durchaus vorhanden. Das vergleichende „wie“ ist den meisten Bands aber nicht zu ersparen: Die Gruppe „Maschina wremeni“ orientiert sich nach wie vor an den Beatles, „Avtograf“ kommt über die Rolling Stones nicht hinaus, das Trio „Cruise“ kopiert die amerikanischen Hardrock-Bands, kann dabei aber die Gitrarre nicht annähernd so genial mißhandeln wie seine Vorbilder.

Auf der Suche nach den Gründen stößt man auf viele Fragezeichen: Braucht es einfach seine Zeit, um die 30jährige Geschichte der Rockmusik aufzuarbeiten? Sind die oft schon betagten Rock-Heroen beim obligatorischen Musikstudium schlichtweg versaut worden? Oder geht es den bezahlten Helden der sozialistischen Rockmusik gar schon zu gut?!

Die ehemalige Underground-Band „Bravo“ tourt nach ihrem Plattendeal mit „Melodija“ landesweit und erhält beträchtliche Gagen und Gigs auch in Ostblockländern. Sie haben sich aus eigenem Antrieb dem Massenpublikum zuge

In Moskau regiert das Metall, Leningrad ist die Hochburg der Avantgarde

wandt. Der Preis: Aus der einstigen Rockabilly-Kultband ist eine stromlinienförmige Popgruppe geworden, von der von offizieller Seite ein gewisses Wohlverhalten erwartet wird – ein Beispiel für den „Ausverkauf“ der Professionellen.

Ein wenig abgestanden ist auch die Gruppe „Schwarzer Kaffee“, die als Vorbilder die Scorpions nie verleugneten. Sie erhielten die Genehmigung, an Pfingsten bei einem Festival in Passau aufzutreten – ein seltenes Privileg, gleichzeitig aber auch ein Hoffnungsschimmer, daß diesem Beispiel bald mehr Gruppen folgen können.

Zum Beispiel für das im Herbst geplante Ost-West-Rockfestival in Berlin (West). Die Berliner

Organisatoren bemühen sich derzeit, die Helden der sozialistischen Rockmusik auf die Bühnen der Mauerstadt zu holen. Auf der Wunschliste: die Newcomer und definitiven Abräumer „Schach“. Die Trash-Metaller sind die einzig bekannte englischsingende Band in der Sowjetunion und gehören zur neuen Generation von Profi-Musikern.

Außerhalb der Zentren Moskau, Leningrad, Minsk. Kiew und Odessa ist das Niveau noch um einiges niedriger. Die meisten „Ensembles“ kommen nicht über die Imitation westlicher Seichtpop-Bands à la Modern Talking hinaus.

Bemerkbar machen sich nach wie vor die regionalen Unterschiede: Orientieren sich Moskau und Odessa zunehmend an Hardrock und Heavy-Metal, ist der Süden noch stark folkloristisch geprägt. Die baltischen Republiken und Leningrad bevorzugen vorwiegend westliche Avantgarde und Punk; Nowosibirsk, Archangelsk, Swerdlowsk und Minsk haben eine vergleichsweise eigenständige Szene aufzuweisen: von Rock über Punk zu Folk. „Nautilius Pompilius“ aus Swerdlovsk (Sibirien) etwa unterlegen ihre provokativen Lieder mit harten, schnellen Gitarrenläufen und sibirischer Folklore. Aus Litauen kommt eine neue Spielart des Punk: der Folk-Punk von „Spez-Brigade“ und „Zement“ (Riga).

Vielleicht am interessantesten aber ist die Avantgarde-Szene des traditionell weltoffenen Leningrads. Hier gibt es die am weitesten ausgeprägte Zersplitterung in verschiedene Fraktionen und wohl auch die extremsten Bands. Zusammen mit den baltischen Hauptstädten Riga und Talinn hat Leningrad die größte Band-Dichte des Landes. Seit Anfang der 70er Jahre entwickelt sich hier, ohne die strenge Aufsicht, die bis 1985 in Moskau existierte, eine ungemein lebendige Musikszene. Der Brite Billy Bragg spielte schon in der Stadt an der Newa, und auch Brian Eno gab ein längeres Gastspiel: Er war mit russischen Bands im Studio.

Auf Leningrads Hauptstraße, dem Newskij Prospekt, befindet sich das „Cafe Saigon“ – ein zentraler Treffpunkt der Leningrader Gegenkultur. In den späten 50er Jahren haben Jazzmusiker und Beatniks des Leningrader Untergrunds dieses Cafe für sich entdeckt. Der heutige Nachwuchs besteht aus Rockern und Schriftstellern, Trinkern und Träumern, Dealern und Hippies.

Hier ist auch „Aquariums“ legendärer Sänger Boris Gre-Russki-rock benschikow anzutreffen. Als seine Gruppe 1980 zeitweilig verboten wurde, war er Herausgeber der Untergrund-Rock-Publikation „Samizdat“ und Gründer des illegalen Cassettenverteilerrings, der unzensierte sowjetische und westliche Musik im ganzen Land vertrieb. Seine Band hatte, trotz Auftrittsverbot, weiterhin einen enormen Bekanntheitsgrad. Neben der „sowjetischen Bette Middler“ Alla Pugatschowa ist Grebenschikow Rußlands einflußreichster Pop-Star. Als erster ehemaliger Untergrund-Künstler durfte er in den Westen reisen. In einem New Yorker Studio arbeitete er mit David Bowie und Sting.

In der Sowjetunion verdienen „Aquarium“ inzwischen 250 Rubel im Monat. Für sowjetische Verhältnisse ist das nicht übel, obwohl eine westliche Gitarre auf dem Schwarzmarkt 3000 Rubel kostet – mehr als ein durchschnittliches Zwei-Jahreseinkommen. Wenn ein Album eine Million Exemplare verkauft, bekommt der Komponist eine Prämie von 2000 Rubel – rund 400 mal weniger als im Westen.

„Melodija“ ist dennoch als wichtige Instanz nicht zu umgehen: Sie schließt Verträge mit Radio, TV und den staatlichen Konzertagenturen. “ Wenn sie aber meinen“, so Boris, „unsere Arbeit zensieren zu müssen, werden wir sofort wieder zu unserem allen Üntergrundsvstem zurückkehren. Wir sind wie Fische, beweglich und nicht faßbar.“

Ein ehemaliges Mitglied von „Aquarium“, Sergej Kuryokhin, hingegen will mit „Melodija“ und dem Rockclub von vorneherein nichts zu tun haben. Kuryokhin ist ein musikalisches Multitalent. Er ist klassisch ausgebildeter Pianist und

„Wenn wir zensiert werden, dann gehen wir halt wieder in den Untergrund“

spielte mit den bedeutendsten russischen Jazzmusikern. Als „enfant terrible“ verschrieen, springt er mit seiner Gruppe „Populjarnaja Mechanika“ zwischen allen musikalischen Lagern. „Pop Mech“, so der geläufige Name, ist ein multimediales Konzept, in dem Rock- und Folklore-Bands genauso Platz haben wie Jazzsolisten. Maler, Elektrobastler, Theaterkünstler, Physiker (die auf der Bühne munter experimentieren) oder ein ganzes philharmonisches Orchester.

Tsoi, der Sänger der Gruppe „Kino“, ist der Held in dem gerade angelaufenen Film „Assa“ – ein Hardrock-Thriller mit politischem Hintergrund. Kostia. Sänger der Punk-Band „Alissa“, spielt die Hauptrolle in dem Film „Der Einbrecher“. Dieser erste sowjetische Spielfilm über die ungeliebten Punks wäre noch vor zwei Jahren undenkbar gewesen. „Das Land lernt endlich seine Helden kennen“, meint der Regisseur. „Ich glaube, daß man aus meinem Helden Kostia mit den entsprechenden Mitteln einen Star europäischen Niveaus machen könnte.“

Der etwas verschämte Blick in den Westen ist unübersehbar, aber auch der nationale Stolz:

Wenn die Traditionen fehlen, muß man sich eben eigene schaffen.

Die russische Rock-Revolution hat den langen Marsch noch vor sich. Die Stimmung ist optimistisch. Die neuen Freiräume werden genutzt – in der noch unsicheren Hoffnung, daß das politische Pendel nicht wieder zurückschlägt.