Shakespeare trifft Straße: So gut ist „Kein Tier. So Wild.“
Ein Rachefeldzug im Wüstenstaub Berlins – warum Qurbanis Drama so verstörend wie faszinierend ist.

Beim Titel „Kein Tier. So Wild.“ dachte ich erst: „Kein Filmtitel. So nichtssagend.“ Doch schon in den ersten Minuten des Films war klar, dass das Gegenteil der Fall sein würde. Burhan Qurbanis neues Werk ist im Grunde Shakespeare in Berlin, eine Neuinterpretation als Thriller, frei nach „Richard III“, übertragen auf rivalisierende Clans in Neukölln. Von der ersten Szene an herrscht eine grundlegende Spannung – welche über zweieinhalb Stunden hinweg anhält. Das ist stark, aber auch fordernd.
Von Anfang an merkt man: Das hier ist kein typischer Clan-Gangsterfilm. Vielmehr ist der Film eine Tragödie über das Streben nach Macht, Verrat und weibliche Wut. Die Hauptrolle spielt Kenda Hmeidan, deren intensive Darstellung der jungen, machthungrigen Tochter eines arabischen Clans den Film mit einer intensiven, bedrohlichen Präsenz durchzieht. Ihr Auftritt ist bestechend, verletzlich und eiskalt zugleich. Die 32-jährige Syrerin floh 2015 nach Deutschland, wo sie schließlich im Maxim-Gorki-Theaters engagiert wurde. Ihr Kinodebüt gab sie 2024 in „Tage mit Naadirah“.
Seine Weltpremiere feierte „Kein Tier. So Wild.“ bei der 75. Berlinale am 14. Februar 2025 und kommt nun am 8. Mai 2025 im Verleih von Port au Prince Pictures in die Kinos. Das Drehbuch schrieb Enis Maci gemeinsam mit Burhan Qurbani.
Aus Richard wird Rashida – eine wütende Anti-Heldin
Qurbani erschafft ein visuell beeindruckendes Werk, das nicht nur überzeugt, sondern teilweise überrollt. Das Szenenbild punktet mit gewaltigen und Sog-artigen Bildern, während die Dialoge sich an dem Shakespeare-Original orientieren und dem Geschehen einen interessanten Kontrast verleihen. Das ist Shakespeare in der Gegenwart – das Setting in Berlin bleibt in abstrakten Kulissen dabei eher austauschbar.
Aus König Richard wurde die weibliche Protagonistin Rashida – genau wie er ist sie eine Außenseiterin, traumatisiert vom Krieg, wütend auf die Welt. Der Film zeichnet ihre Erfahrung als Migrantin einer perspekivarmen Randgruppe ab, eine tiefsitzende Enttäuschung, denn „Freiheit war das Versprechen“, wie sie anfangs im Film sagt – ein Versprechen, das für sie nie eingelöst wird. Im Kampf um ihre Freiheit und Emanzipation von ihren Brüdern wird sie selbst zur blutrünstigen Rächerin: „Ich dürste und tränke meine Brüder in ihrem Hass.“ Rashidas Makel ist nicht eine körperliche Verformung wie bei Richard, sondern ihr Geschlecht: „Betrogen von Geburt um jeden Vorteil, verformt, unfertig“, spricht sie zu ihrem eigenen Spiegelbild.
Tragödie ohne Pause
Aber: So eindrucksvoll die Inszenierung auch ist, sie bringt Ballast mit sich. Die künstliche, pathetische Sprache, das theatralische Schauspiel und die Zwischentitel der einzelnen Akte machen zwar deutlich, dass es mehr ein Hybrid aus Kino und Theater ist, doch das Shakespeare-ähnliche Skript wirkt trotzdem teilweise steif und aufgesetzt in seinen Dialogen. Die Namen aus Shakespeare-Original „York“ und „Lancaster“ wollen mit dem Setting der arabischen Clans nicht wirklich zusammenpassen. Von dramatischen Zeitlupen-Morden bis zu nächtlichen Motorradfahrten – jede Szene wirkt maximal inszeniert.
Im dritten und vierten Akt verlagert sich die Handlung dann fast vollständig auf ein Baustellen-Set, das eher an „Dune“ erinnert als an Berlin – eindrucksvoll, ja, aber auf die Spieldauer auch entfremdend. Die gestelzten Dialoge verlieren sich dort wortwörtlich im Staub seiner Kulisse und rücken trotz der artsy-gestylten Darsteller:innen immer ferner. Die Handlung steigert sich gnadenlos in seine Tragödie hinein, ohne Luft zu lassen, bis man sich als Zuschauer:in etwas überfahren, ein wenig allein fühlt. Möglicherweise war das die Intention, sie führt jedoch auch dazu, dass es das Publikum die emotionale Schärfe verliert.
Gerade hier ist der der Knackpunkt: „Kein Tier. So Wild.“ will viel – vielleicht zu viel gleichzeitig. Hätte man die teils überladenen Dialoge etwas aufgelockert und den vierten Akt gestrafft, wäre der Film temporeicher und für ein breiteres Publikum zugänglicher. Doch in der Länge hinterlässt das Werk ein Gefühl von Erschöpfung – wenn auch Nachdenklichkeit. Auch wenn die Sprache an einigen Stellen kurz aufgebrochen wird, etwa durch den Kontrast mit vulgären Slang-Schimpfwörtern, oder Richards Ruf nach einem Pferd zu einem „Königreich für meinen Jaguar“ wird, lassen diese vereinzelten Brüche doch nur kurz aufhorchen.

Trauma, Macht und die Frage nach dem Warum
Der Film reflektiert Macht und Kontrolle in einem kollabierenden System und zeigt, wie aus einer Unterdrückten eine Unterdrückerin wird. Rashida beginnt in ihrem Rachezug ihr eigenes Trauma zu reproduzieren: In dem Moment, in dem sie sich von der Macht etwas erhofft, wird sie selbst zum Spiegel dessen, wogegen sie einst ankämpfte. Es stellt sich die Frage: Warum kehren wir uns an einem bestimmten Punkt in unser Gegenteil um – und wiederholen das, was uns selbst zerstört hat?
Wie fühlt es sich an, ständig am Rand zu stehen, nie ganz dazuzugehören? Regisseur Burhan Qurbani, dessen Eltern aus Afghanistan eingewandert sind, kennt diese Erfahrung aus erster Hand. Das Leben zwischen den Welten, das Gefühl des ständigen Dazwischen – es zieht sich durch sein Werk. Auch in „Berlin Alexanderplatz“ (2020) erzählte er von einem Geflüchteten aus Afrika, der in Europa keinen Platz findet. In „Kein Tier. So Wild.“ sind es Clan-Familien, die zwar in Deutschland leben, aber nirgends wirklich dazugehören zu scheinen.
„Ich bin nicht euer Gegenteil“
Und vielleicht ist das genau die Stärke dieses Films: Er ist nicht belanglos. Er will nicht gefallen. Aber er bleibt im Kopf – und sorgt dafür, dass man über Dinge wie Identität, Macht, Zugehörigkeit nachdenkt. Rashidas Zeile „Ich bin nicht euer Gegenteil“ hallt lange nach – als notwendiger Gegenentwurf zum „Othering“, das unsere aktuelle politische Situation prägt. Angesichts wachsender autokratischer Tendenzen wirkt der Film umso eindringlicher, indem er zeigt, wie Ausgrenzung und Machtstreben in extreme Bahnen lenken kann.
„Kein Tier. So Wild.“ ist intensiv, überambitioniert – und dennoch sehenswert. Wer Lust auf ein modernes Shakespeare-Experiment, starke Bilder und einen Blick auf weibliche Wut in männlich-dominierten Strukturen hat, sollte sich diesen Film nicht entgehen lassen.