Smells Like Teen Spirit


„Heimat ist eben doch nur ein Haufen Vollidioten, die man Freunde nennt“, findet Schmall, der sein Leben in Schwabylon vor der Jahrtausendwende nur erträgt, wenn er schon morgens kifft, abends trinkt und zwischendurch wenigstens bei der richtigen Musik verzweifelt. Schmall ist der Held in „Lokalhelden“, dem Debüt-Roman von Jörg Harlan Rohleder. Ein Auszug:

Obwohl ich Nina dafür verfluche, geht mir seit Tagen die Frage nicht aus dem Kopf, was aus mir eigentlich werden soll. Ich werde sie nicht los, wie einen ekelhaften Ohrwurm. Wie dieses verdammt Lied der Pixies, wie „Where Is My Mind“.

Was soll ich groß vom Leben erwarten?

Wo kann ich schon hinwollen?

All diese dämlichen Fragen, die Erwachsenen wichtig sind und deren Antworten sie dann doch nur enttäuschen.

Wolle hat zu all dem einen einfachen Standpunkt: Er will so weitermachen wie bisher. Operation Ivy und „Tanz den Mussolini“ hören, Bier trinken und möglichst wenig, am besten nie arbeiten.

„Wenn man wenig erwartet, wird man auch weniger enttäuscht.“

„Aber so falsch ist es doch nicht, etwas vom Leben zu erwarten“, werfe ich ein.

„Du glaubst wohl, du wärst etwas Besonderes, aber das denken all die anderen Deppen auch. Und am Ende hockst du nur in einer Eckkneipe und belästigst deine Mitmenschen mit langweiligen Anekdoten darüber, wie du es beinahe geschafft hättest, Künstler, Literat oder Popstar zu werden. Aber eben nur beinahe, so wie all die anderen Spacken auch.“

„Wie sieht denn dein Plan aus?“

„Ich mache es mir am Rande der Gesellschaft gemütlich.“

„Und was soll das bedeuten?“

„Vielleicht werde ich einfach Hausmeister, da dreh ich jeden Tag drei Glühbirnen rein, rauche in meinem Kabuff Bong und mache jeden Tag eine Stunde früher Feierabend. Wichtig ist nur, dass man machen kann, was man will.“

„Und was willst du machen?“

„Egal, die Hauptsache ist, zu wissen, was ich nicht will: kein Trottel werden, nicht mitspielen, sich nicht anpassen, kein Haus bauen, kein elektrisches Brotmesser benutzen. Kurz: kein Arschloch werden, nicht in Schwabylon versauern, die Spielregeln brechen, sich ausklinken, sein eigenes Ding machen. Das Leben ist ein Spiel, bei dem alle verlieren: Am Ende sitzen wir sabbernd im Altersheim, können uns außer an Kohl an nichts erinnern und scheißen Windeln voll. Egal, ob du Präsident, Papst oder Punker warst.“

„Das klingt irgendwie nach Penner“, sage ich zögernd.

„Ist es aber nicht“, wirft Wolle ein, weniger cool als eben.

„Dann eben Schnorrer.“

„Du klingst ja, als sei dir Geld plötzlich wichtig.“

„Nein, aber mit Geld kann man sich das Elend aussuchen, in dem man lebt.“

„Wichtig ist die Frage, ob man mitmacht oder nicht. Die Entscheidung, vor der wir stehen, ist, ob man nach oben will oder es sich unten gemütlich macht.“

„Wäre es nicht schlauer, die Linie zwischen uns und ihnen zu ziehen ?“

„Ihnen ?“

„Den anderen halt.“

„Ich will jedenfalls keiner dieser Wohlstandszombies werden, in Scheißanzügen, die immer zu laut reden, aus Angst, man könnte sie übersehen.“

[…]

Als wir in den Talkessel fahren, steigt meine Laune um zwei Grad. Wolle hat den ganzen Nachmittag über genervt, so lange, bis ich schließlich eingeknickt bin wie Schädlers Cousine. Auf dem Platz vor dem „Oz“ an der Kronprinzenstraße lungern wie jeden Abend die üblichen Verdächtigen rum. Es geht zu wie auf einem psychedelischen Kindergeburtstag.

Wer hat was?

Wer will was?

Wer kann was aufstellen?

Die Dealer versuchen gar nicht, ihr Geschäft irgendwie zu verheimlichen. Wer etwas kaufen will, spricht einfach einen der hohlwangigen Jungs an, die aufgereiht auf dem Brunnenrand sitzen. Wolle unterhält sich mit einem gedrungenen Typen, dessen Augen nervös flackern. Das Wieselgesicht trägt eine schwarze Windjacke von Nike. Er will vierzig Mark pro Pille, hundert für drei. Während Wolle sein Geschäft abschließt, sehe ich Morti, der irgendetwas Wichtiges mit dem Türsteher bespricht. Ich nicke ihm zu, aber Morti sieht durch mich hindurch.

Als Wolle fertig ist und wir zum Eingang rüberlaufen, ist Morti schon weg. Irgendwie seltsam, denke ich. Wir gehen vorbei am Türsteher, unter dem weißbärtigen Magier hinweg, der den Eingang des „Oz“ bewacht. Am Eingang bekommen wir schwarze Plastikkarten, Lochkarten, wie mir Wolle auf dem Weg nach unten erklärt. Darauf werden die Getränke abgelocht, bezahlt wird später am Ausgang.

Wir gehen nach hinten zur Bar und bestellen Jägermeister, irgendwann muss der Abend ja losgehen. Während ich auf die Getränke warte, sehe ich mich um und versuche, etwas in diesem schwarzen Loch zu erkennen, was beinahe unmöglich ist, weil die Wände pechschwarz gestrichen sind und der ziemlich hohe Kellerraum voller Nebel steht, durch den Stroboskopblitze peitschen. Der Keller ist groß, laut und hässlich.

Auf einer Empore im hinteren Eck steht Commander Tom, der wie ein satanistischer Druide sein Handwerk zelebriert. Es pfeift und beept, scheppert und schallert. Langsam legen seine Platten an Tempo zu. Die Gliedmaßen der Tanzenden scheinen wie von selbst zu zucken, als hätten sie ihre Kontrolleinheit an der Garderobe abgegeben.

Schweiß fließt literweise, tropft von der Decke, die Menge tobt, schreit, sie wollen es wissen, Commander Tom auch. Er spielt Silke von Ilsa Gold, dann Temple Of Color, Virus Inc.

Eine halbe Stunde später, Wolle lässt gerade seine Karte für die nächste Runde Jägermeister lochen, gesteht Wolle mir, dass er mir vorhin eine halbe Pille in den Drink gekrümelt hat. Eigentlich müsste ich sauer sein. Aber ich muss zugeben, dass mir die Musik gerade ganz gut gefällt.

Vor allem der Bass, wie er gerade wieder in den Beat findet.

Gut so, denke ich.

Gut.

Nicht gut.

Nein, geil.

Ich drehe mich um, in Richtung des DJs, der im Eck über seinen Plattentellern kauert.

Ich kann meine Füße nicht halten, sie sind schwerelos. Ich tanze. Tanze, befreit, und merke, es fühlt sich richtig an. Richtig und glücklich.

Vor allem glücklich.

Vor mir steht ein Mädchen, sie sieht schön aus, wie sie da tanzt. Wir schauen uns beim Tanzen zu, tanzen näher aneinander, manchmal streifen sich unsere Hände. Auf der Box neben uns steht ein Kerl in Tennisklamotten und spielt Luftgitarre. Alles schwimmt.

Ich schaue mich um, Wolle sitzt an einem der quadratischen Tische, die Augen geschlossen. Ich frage Wolle, wie es ihm geht. Er antwortet nicht, sitzt regungslos da, als hätte er sich seit Stunden nicht bewegt.

Trägt er Handschuhe?

Kann nicht sein, denke ich und reibe mir die Augen, Farben explodieren.

Ich halte sie geschlossen.

Dann höre ich Wolles Stimme, sie sagt, er fühle sich wie eine stehengebliebene Uhr.

„Was?“

„Du hast doch gefragt.“

„Wonach?“

Dann: „Ach so, ja, klar.“

Er: „Wie eine stehengebliebene Uhr.“

Ich: „Und ist das okay?“

Wolle: „Okay ist okay, nicht okay ist auch okay.“

„Okay.“

Ich lehne mich zurück, schließe die Augen. Und bleibe auch stehen.

[…]

Ich versuche in der Dunkelheit nicht über meine eigenen Füße zu stolpern und folge ihr. Wir klettern über den Zaun des „Hörnle“, schleichen am Häuschen des Nachtwächters vorbei und setzen uns schließlich auf den Badesteg. Natja hat eine Decke dabei, ich Wodka und Apfelsaft. Nach zwei Bechern lehnt sich Natja an mich, ich lege ihr die Decke über die Beine und zerspringe vor Glück. Rede bloß nicht zu viel Quatsch, ermahne ich mich, sei lustig und höflich, so wie es die Ahne immer geraten hat.

Vielleicht sollte ich sie einfach küssen, so wie Nina es damals mit mir gemacht hat, einfach so, denke ich, einfach mal probieren und schauen, was passiert.

„Stimmt was nicht?“, fragt Natja und reißt mich aus meinen Gedanken. Sie sieht so toll aus, wie sie daliegt, wie ein Löwenbaby.

„Nein, ist nichts“, stammle ich.

Küss sie endlich, fährt es mir durch den Kopf.

Doch sie ist schneller.

Und viel zärtlicher als Nina.

Ihre Lippen sind unglaublich weich, sie berühren meine fast gar nicht.

Hätte ich einen Pakt mit Mephisto geschlossen, dieser Moment wäre es wert, fortan mit einem stinkenden Klumpfuß durchs Leben zu schwefeln.

Leider wird mir dieses Glück verwehrt. Natjas Lippen weichen zurück, sie wendet ihr Gesicht von meinem ab.

„Ich muss dir was sagen“, höre ich sie sagen.

„Was?“, frage ich und vergrabe meine Nase in ihren Haaren. Sie riechen nach Sonnenaufgang und frischen Erdbeeren.

„Michi ist auf dem Weg hierher. Wir sind um Mitternacht vor dem McDonald’s in Konstanz verabredet.“

Ich spüre einen Stich in der Brust, als hätte Lord Vader mich mit dem Lichtschwert hinterrücks durchbohrt. Ich schaue weg, weil ich nicht will, dass Natja sieht, wie mir Tränen in die Augen schießen.

„Ich würde doch auch lieber mit dir hierbleiben“, flüstert Natja und nimmt meine Hand.

Ich drücke ihre Hand.

Sie meine.

Dann küsst Natja mich noch einmal, dieses Mal presst sie ihren ganzen Körper gegen meinen.

„Bitte erzähl niemandem von uns, hörst du?“, sagt Natja, als sie meine Hand am Rande des Konstanzer Bahnhofplatzes loslässt.

„Gib mir ein wenig Zeit.“

„Mach dir keine Sorgen“, haucht sie zwischen zwei Küssen in mein Ohr. „Ich fand noch nie einen Jungen so toll wie dich.“

Mir fällt mal wieder nichts Passendes ein, also sage ich, dass ich sie auch toll finde.

Dann läuft Natja davon.

Ich bleibe stehen, zünde mir eine Zigarette an und höre auf das warme, flirrende Summen in meinem Körper. Es fühlt sich so wohltuend an. Wie ein zweites Paar Socken zum Wechseln nach einem regnerischen Tag in den Alpen, wie ein Glas Quellwasser nach einer durchfeierten Nacht.

[…]

Zum Glück bin ich weder eine Frau noch ein Jude. So kann wenigstens niemand etwas an meinem Genital abschneiden, denke ich, und beginne den Tag damit, zu onanieren.

Heute ist der 5. April 1994. Und der 5. April 1994 sollte ein Tag werden, den keiner aus unserer Generation so schnell vergisst. Der Sänger von Nirvana habe sich erschossen, heißt es in der Raucherecke. Wie feige ist das denn, ist mein erster Gedanke. Der zweite ein Zitat aus einem Interview, das ich irgendwann gelesen hatte. Darin hatte der Sänger erzählt, er habe schon in der Jugend über die Option Freitod nachgedacht, wollte jedoch nicht aus der Welt gehen, ohne zu wissen, wie es ist zu bumsen.

Cobains Tod wird das eine Ereignis sein, das unsere Generation zusammenschweißt, der kleinste gemeinsame Nenner, unsere Mondlandung, unser Hiroshima, unser Attentat auf JFK. Nur noch viel schlimmer.

Enni, Lizzy und ich beschließen, im Wohnzimmer der Diederichs zu campieren und nonstop MTV zu schauen. Wir nehmen Michi mit, der wie ein Hund leidet. Noch heute sehe ich die Bilder manchmal vor mir, die da in Endlosschleife gesendet wurden. Trauernde Kids in Holzfällerhemden, die wie ferngesteuert durch Amerika taumeln, brennende Kerzen vor Cobains Villa, der weiße Volvo in der Einfahrt, VJane Tabitha Soren, die vor laufender Kamera die Tränen nicht halten kann, das Interview mit Lewandowski, dem ersten Polizisten am Tatort, einem aufgequollenen Schnauzer in blauer Uniform. Grunge war am Ende. Die selbst auferlegte schlechte Laune echter Trauer gewichen.

Lizzy und ich machen uns ernsthaft Sorgen um Michi. Plötzlich ist Selbstmord etwas Reales, Mögliches, ekelhaft Heroisches. Um Michi abzulenken, bleiben wir einfach vor dem Fernseher sitzen und zwingen ihn, Sahnepatronen zu inhalieren. Lizzy lässt Michi in der Nacht sogar in ihr Bett, ich schlafe auf der Couch in Ennis Zimmer.

Offen gestanden, ist mir die öffentliche Anteilnahme nach den ersten sechzig Minuten ziemlich zuwider: Bei mir überflügelt die schiere Sensationslust die eigentliche Trauer. Stündlich laufen neue Nachrichten über den Ticker. Zuerst der Abschiedsbrief mit den letzten Worten: It’s better to burn out than to fade away, ein Zitat aus Neil Youngs Song „My My, Hey Hey“, dann der Kaufbeleg der Shotgun (308,37 Dollar), schließlich die Aussage der Ermittler, man habe an der Tatwaffe keine Fingerabdrücke gefunden.

Wie bitte?

[…]

Ich öffne die Türe, die ins Dachgeschoss führt. Jetzt riecht es nach Heimat. Sonnig, hölzern und staubig. Irgendwie auch nach dem morschen Alte-Damen-Parfüm meiner Oma, die früher immer das Zimmer belegt hat, als es noch das Gästezimmer war.

Ich öffne die Türe behutsam, sie kratzt ein wenig am Teppich. Nachmittagssonne fällt ins Zimmer, Staub tanzt. In meinem Zimmer, das sich eher wie ein Baumhaus anfühlt, sieht es so aus wie immer. Alte Balken teilen das L-förmige Zimmer, die Wände sind weiß, der Teppich lindgrün, die Decken mit Fichtenholz verkleidet. In den Regalen stehen meine Bücher, an den Balken hängen fein säuberlich sortiert die Star-Wars-Figuren. Darth Vader mit abnehmbarem Helm, Luke Skywalker Brown Vest auf der orangefarbenen Power-Of-The-Force-Karte, darunter ein Java und ganz oben ein Half Circle Boba Fett, eine seltene Variation des Kopfgeldjägers. Ich gehe hin, um mich zu versichern, dass die Plastikblase, die die Figur auf der Karte fixiert, während meiner Abwesenheit unversehrt geblieben ist.

Ist sie.

Auf dem Schreibtisch liegen ein paar alte Ausgaben des Spiegel, darauf ein Zettel meines Vaters: „Willst Du die noch behalten?“ Mein Blick fällt auf das Plakat, das hinter Glas neben dem Fenster hängt. Es ist ein Werbeposter für die zweite Platte von Nirvana, für Nevermind. Darauf sieht man ein Baby durch ein blaues Becken tauchen. Das Baby schwimmt direkt auf den Betrachter zu. Ich schaue auf den kleinen Schniedel und frage mich, wahrscheinlich schon zum hundertsten Mal, wie groß der Schniedel wohl geworden ist mittlerweile. Und wie das Baby eigentlich heißt. Hoffentlich hat der Kleine wenigstens ein paar Dollar dafür bekommen, dass eine ganze Generation ihm auf den Schwanz starrt, denke ich, während ich mit der linken Hand die Stereoanlage anschalte und mit der rechten die Bong dahinter hervorhole. Wenigstens dieses eine Mal habe ich daran gedacht, das siffige Bongwasser auszuleeren.

Ich drücke auf Play. Und gehe in den Vorraum, zum Waschbecken und fülle die Bong mit Wasser. Der Tabak und die grünen Grasbröckchen in der Mischungsschale sehen ziemlich trocken aus. Egal. Dann ziehe ich einen Kopf.

Ready or not, here I come.

Ich stelle die Bong hinter den Vorhang und huste. Das Wasser aus dem Hahn war wohl doch ein wenig zu warm. Idiot, denke ich, ziehe die Schuhe aus und lege mich aufs Bett.

Gonna find you and take it slowly.

Ich entscheide mich für einen Mittagsschlaf und gegen das Versprechen, mich sofort bei allen zu melden. Ich sehe sie heute Abend ohnehin, Wolle, die dicke Lizzy, Michi, Anna. Und natürlich Natja, meine Freundin, zumindest war sie das vor drei Monaten noch. Was es wohl Neues beim Schelm und Morti gibt, frage ich mich. Und ob sie das Geld in Sicherheit gebracht haben? Aber vielleicht war das auch nur eine Mär, das mit dem Geld.

Auf dem Digitalwecker, der auf meinem Nachttisch steht, blinkt die Datumsanzeige. Heute ist der 20. Oktober 1996. Bevor ich einschlafe, fällt mir wieder die bescheuerte Bemerkung ein, die Brownsen vorhin am Flughafen gemacht hat: „Irgendwie erwachsener.“ Der Spruch hallt unangenehm lange in meinem Kopf wider.

Erwachsener.

Irgendwie.

Was heißt das schon?

Erwachsener als wann?

Erwachsener als was?

Egal.

Nevermind.

Lokalhelden

Die tragisch-komische Geschichte von Schmall und seinen liebenswert durchgedrehten Freunden hat Jörg Harlan Rohleder geschrieben, im Hauptberuf Mitglied der Chefredaktion des Musikexpress. Vor dem ME hat Rohleder unter anderem für „Vanity Fair“ und „Focus“ als Reporter gearbeitet.

Roman, 288 Seiten,

16,95 Euro, Piper Verlag