So surreal wie möglich


„Niemand kann uns stoppen!" My Morning Jacket würden uns gern alle in eine andere Dimension katapultieren. Dann mal los.

Falls da draußen unter den Fanbeauftragten von My Morning Jacket noch jemand sein sollte, der nicht weiß, wie man Jim James spontan eine Freude machen kann – hier ist ein Bomben-Tipp für alle Fälle: Jim James freut sich hörbar, wenn man die gerade aktuelle Platte seiner Band als „wirklich seltsam“ bezeichnet. „Oh, vielen Dank, das ist ein großes Kompliment“, sagt James seltsam artig am anderen Ende der Leitung. Er sitzt in diesem Moment in einem Hotelzimmer in London und gibt Interviews, seine Band hat dort einen mehrtägigen Aufenthalt, bevor die sechswöchige Europa-Tour zum neuen Album Evil urges vom Stapel läuft.

Merkwürdig ist die Musik von My Morning Jacket geworden. Wer den Werdegang der Band aus Louisville/Kentucky vom Debüt the tennessee fire (1999) bis zum neuen Album verfolgt hat, wird sich ein Grinsen über diese Entwicklungsgeschichte kaum verkneifen können – die Band hat eine ziemliche Reise hingelegt, vom „ehrlichen“ Southern-Rock-Shuffle mit Americana-Erdung bis zur epischen Stadion-Hymne mit glitzerndem Country-Chor, elektronisch unterfüttertem Schmalz und diesen arschtretenden Funk-Rock-Stücken, die man seit den 7oern für mausetot gehalten hatte. „Es ist, glaube ich, nicht so, dass wir uns anstrengen müssen, eine seltsame Platte zu machen“, sagt Jim James. „Wir sind von Natur aus seltsame Typen, auf den Alben kommt das von Mal zu Mal besser raus.“Und dann sei ja auch sein Musikgeschmack seltsamen Veränderungen ausgesetzt. „Zuletzt hat mich Gospelmusik wirklich berührt, aber auch Curtis Mayfleld und Marvin Gaye.“ Und natürlich Prince: „Das ist und bleibt einer der ganz Großen“, sagt der Sänger, der seine Falsettstimme bei Bedarf zu einer bizarren Prince-Kopie aufblasen kann.

Seit dem letzten Album z (2006) hat sich etwas grundlegend bei My Morning Jacket verändert. Jim James deutet das mit den zwei Wörtchen „Groove“ und „Swing“ an. z war auch das erste Album, das im aktuellen Line-up Jim James (Gitarre/Gesang), Two Tone Tommy (Bass), Patrick Hallahan (Drums), Bo Koster (Keyboards) und Carl Broemel (Gitarre) aufgenommen wurde, produziert hatte der britische Wave-Veteran John Leckie. evil urges entstand mit Joe Chicarelli (Stan Ridgeway, The Shins) in New York. „Die Stadt hat einen starken Einfluss auf das entwickelt, was auf dem Album zu hören ist“, erzählt James. „Bevor wir in New York ins Studio gingen, waren alle Songs in Colorado geprobt worden. In New York haben wir dann vor allem an der Geschwindigkeitsschraube gedreht. Wir waren dann ja nicht mehr mitten im Nirgendwo, sondern wie ein Team von Baumeistern, die ein Haus mitten in der belebten Stadt errichten.“

Die Entscheidung für New York war ein Votum für Experiment und Unsicherheit, wenn man so will – gegen die Hometown-Szene in Kentucky, in der die Band lange sicher verankert war. „Zuletzt war ich nicht mehr oft in Kentucky, weil wir so viel auf Tour sind, ich lebe inzwischen an verschiedenen Orten. Louisville hat aber heute noch Bedeutung für mich, weil meine Familie dort lebt und ein wichtiger Teil meines Lebens mit der Stadt verbunden ist. Die Stadt ist so etwas wie eine gute Grundlage. Das Leben dort ist ruhiger und langsamer als in den meisten Orten, die wir sonst so kennenlernen. Ein Ort des Müßiggangs ist Louisville deshalb aber noch lange nicht, die Stadt hat nur ihre eigene Geschwindigkeit.“

My Morning Jacket ziehen 2008 nicht nur das Tempo an, sie schwingen sich mit den 13 neuen Songs so ganz nebenbei zu Klassensprechern der neuen „Indie Rock Sucks“-Bewegungauf, an deren anderen Ende College-Kids wie Vampire Weekend mit Afro-Beat-Texturen auf die Übernahme müder Indie-Fan-Scharen lauern. Summa summarum sagen alle dasselbe: Indie-Rock ist die letzte Domäne alternativen Spießertums. Und: Kopf hoch, es gibt viele Wege, die aus dem Kerker der LoFi-Eitelkeit fahren. Jim James‘ Alt-Rock-Kapelle hat sich in einen Verein von Musiksuchern gewandelt, die sich durch die Zeiten und Stile beißen, von Reggae und Soul der Sixties und Seventies bis zu schwitzigen Boogie-Jam-Sessions. Und für einen Hall & Oates-Song schämen muss man sich 2008 auch nicht mehr. Es zählt ja nur der spezielle Kick. Den findet Jim James in allen Lebenslagen. „Einmal hatte ich gerade mit meiner neuen Drum-Software gespielt und ein paar Beats programmiert, und plötzlich tanzte ich wie manisch durchs Zimmer und sang das, was später zum Song,Highly Suspicious‘ werden sollte. Ein bisschen komisch ist das auch gemeint.“Was beim erwähnten Song unter dem schrecklichen Knarzen eines Basses zu hören ist, muss man nicht verstehen, es klingt nach einem wirren Science-Fiction-Pop-Stück, in dem sich James (schriller Bariton) und Broemel (tiefe Robo-Voice) gesanglich duellieren. Keyboarder Koster soll bei der ersten Probe zu „Highly Suspicious“ höchst beeindruckt gewesen sein: „Ab ich diesen Song hörte, wusste ich, dass alles geht. Niemand kann uns stoppen.“

Das gilt mit Sicherheit für die Live-Shows. Dass der Sound dieser Band voluminös genug ist, um ein Festival wie Glastonbury im Sturm zu nehmen, scheint keine Frage mehr. Beim SXSW-Festival im März ließen My Morning Jacket mal wieder die Zwei-Stunden-Marke hinter sich. Und auf der Bühne des Fillmore in San Francisco hatte die Band einen Wald aufgestellt, die Zuschauer waren aufgefordert, sich als Feen, Zauberer und Kobolde zu verkleiden oder im viktorianischen Aufzug zu erscheinen. „Wir versuchen, die Shows so surreal wie möglich zu gestalten „, sagt Jim James, „den Leuten die Erfahrung einer anderen Welt zu schenken, sie in eine andere Dimension zu katapultieren. Vergesst den Club, in dem ihr euch gerade befindet.“

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