Solo soft, mit Gruppe Grunge: die zwei Gesichter des John Hiatt


CHICAGO. Links die Hochhausschluchten von Chicago, rechts der Michigansee — und am Himmel eine Gewitterfront, die einen Sturm oder Schlimmeres befürchten läßt. John Hiatt kümmert’s nicht. Die akustische Gitarre unterm Arm. watschelt er auf die kleine Open air-Bühne des „Grant Parks“ und erzählt den 5000 Zuschauern, was in so einer Situation ratsam ist — „Come On Baby, Drive South“. Die Menge jubelt. Hiatt fährt die Ernte ein.

Jahrelang galt er in seiner Heimat bestenfalls als Songschreiber für Größen wie Bonnie Raitt. während er in Europa auch als Solo-Act zumindest Kult-Status genoß. Inzwischen scheint er die mageren Jahre endlich abgehakt zu haben. In Chicago wikkelt Hiatt sein Publikum mühelos um den kleinen Finger — und als seine Band einsteigt, wird das Gaspedal tief durchgedrückt.

Auf seiner neuen CD „Perfectly Good Guitar“ hat der 41jährige seine Vorliebe für schräge Riffs entdeckt — dementsprechend ruppig fällt auch der Live-Sound aus: Hiatt und Co.

dröhnen fast wie eine Garagenband, die gerade die neuen Marshall-Verstärker bis an die Grenzen der Belastbarkeit testet.

Aber der Mann aus Nashville achtet darauf, daß die Dröhnungen stets geerdet sind. Furiose Uptempo-Nummern wie das neue „Cross My Fingers“ oder der ältere Song „Paper Thin“ sind nach wie vor im Rhythm & Blues verwurzelt und verkommen nicht zur Brachial-Attacke. Und Hiatt schiebt immer mehr Briketts nach: „1t huris my heart 10 see those stars, smashing a perfectly good guitar“, krakelt er mit seiner brüchigen Stimme und unterlegt seine Darbietung mit wuchtigen Gitarren-Breitseiten.

Dann hat er sich fürs erste ausgetobt. Die Band darf gehen. Hiatt setzt sich ans Piano und taucht in eine seiner schönsten Balladen ein — „Have A Little Faith In Me“. Und — aaah — ein kollektiver Seufzer geht durchs Publikum.

Die Träne auf der Wange meiner Nachbarin ist allerdings keine — sondern ein Tropfen. Den Schlußpunkt des Konzerts setzen Blitz und Donner, aber Hiatt grinsl und bringt eine andere Schmuse-Nummer: „Feels Like Rain“. Feels eher „like a thunderstorm“. Als die Bühne binnen Sekunden unter Wasser steht, muß Hiatt ebenso wie die panisch flüchtende Menge das Weite suchen.

Macht aber nichts. Für ein beseeltes Konzert von ihm läßt man sich schon mal bis auf die Knochen naßregnen.