Musikexpress präsentiert

Ab in den Moshpit – der Samstag beim Tempelhof Sounds 2022 mit Muse, Wolf Alice, Idles und mehr


Nachdem bereits Florence + The Machine Tempelhof im wahrsten Sinne des Wortes zum Beben gebracht hatte, ging es am Samstag (11. Juni) nahtlos weiter.

Samstag, kurz vor zwei. Leicht bewölkt, milde Temperaturen. Die Frisur sitzt. Zwei mittelalte Herren, die hinter ihrem Computer/Synthesizer-Equipment freundlich in die noch locker gefüllten Reihen winken, laden zum Tanztee. Es sind The Avalances aus dem australischen Melbourne, die im Jahr 2000 mit dem Album „Since I Left You“ und der gleichnamigen Single einen Mega-Hit hatten. Eine Symphonie aus Samples und Flächen, die zu einem Slow-Disco-Klassiker der Techno-Ära wurde.
22 Jahre später kreieren Robbie Chater und Tony Di Biasi ohne weitere Musiker*innen-Unterstützung ein heran wogendes Space-Sound-Geräusch, das über das weite Rollfeld wabert. Auch die Gesangs-Stimme(n) kommen aus der Konserve. Das ist bei The Avalanches Prinzip. Wer sein eigenes Shazam im Kopf hat, erkennt die Zeile „I will not always love you“ aus „God Only Knows“ von den Beach Boys, später Sound-und-Wort-Fetzen der Spätachtziger-Ära des Chicago House („The House That Jack Built“) oder Freddie Mercury, der ihnen sein „I Want To Break Free“ leiht. Daheim in Australien führen sie diese Kompositions-Werke schon mal mit Symphonie-Orchester auf. Wer Platz fand, genoss den Auftritt im Liegen, so war ihr knapp 40-minütiges Set statt Chill Out eine Art „Chill In“ für die weiteren Bands des Samstags. Electro zum Eingrooven für die Rock-Kollegen.

Abfeiern mit Wolf Alice

Was Johnossi sich mehrfach vom Publikum einforderten, bekamen Wolf Alice nahezu mühelos: Zuschauer, die der ansteckenden Performance von Anfang bis Ende aufmerksam folgten und interagierten – inklusive Mosh Pits und Headbanging. Dabei zeigte sich authentische Freude, wieder hierzulande spielen zu können: „We missed you!“, ruft Ellie Rowsell, die Sängerin von Wolf Alice. Für die britische Indie-Rockband ist es das erste Deutschland-Konzert seit vier Jahren. Damals sind sie im kleinen Berliner Columbia Theater aufgetreten. Diesen Samstagnachmittag spielen sie 500 Meter Luftlinie weiter südlich (grobe Schätzung) vor vielen Tausend Menschen: Erstaunlich, wie viele Leute gekommen sind, um die Band zu sehen. Aber nur folgerichtig: Ihr neues Album „Blue Weekend“ ist toll – und für große Bühnen und große Crowds wunderbar geeignet.

Die Hälfte ihres Sets besteht aus neuen Songs, und es hätten gut noch mehr sein können. Zu einigen Album-Highlights kommen sie gar nicht; sie konzentrieren sich hier lieber auf die selbstbewussten Rocker („Smile“ als Opener, später „Play the Greatest Hits“) oder die Synth-Pop-Banger („How Can I Make It OK“) als auf die ruhigeren Tracks. Verständlich! Bei den leiseren Momenten, wie der ersten Hälfte der Power-Ballade „The Last Man on Earth“, dringen dann auch Störgeräusche vom restlichen Festivalgelände durch, wie ein sehr ungünstig getimter, und nervtötend lauter, Soundcheck auf der Hauptbühne. Sollten Rowsell und Kollegen den wahrgenommen haben, haben sie sich zumindest nichts anmerken lassen. „Trinkt ihr auch alle genug Wasser?“, ruft der Gitarrist Joff Oddie. Er hat nicht unrecht, es ist schon wirklich sehr heiß. Bei diesen Songs.

Energetische Performance von Idles

Kurz vor vier versammeln sich Fanboys & -Girls und internationale Fußball-Trikot-Träger (Chelsea, Betis Sevilla, Royal Antwerpen…) auf der zentralen Sichtachse zur Hauptbühne. Erwartet werden die Idles aus Bristol. Und das verspricht ein intensives Brett zu werden. Ein Donnerschlag sondergleichen. Mastermind und Sänger Joe Talbot mit weißem Kellner-Oberhemd, Anzughose und Kurzhaarfrisur wirkt aus der Ferne wie ein böser Engländer, mit dem man im Pub besser keinen Zoff anfängt. Seine Crew spielt die Individualismus-Karte. Gitarrist Mark Bowen etwa in einem luftigen Kleid, wie es einst auch Kurt Cobain zu tragen pflegte. Mit „Nirvana aus UK“ würde man das Quintett nicht grundfalsch kategorisieren, was Lärm, Schmerz und Intensität betrifft. Eingangs predigt Talbot doomend ein wiederkehrendes Mantr „It’s coooooming…“  – und alle wissen: Gleich geht’s ab.

Das Credo des vierten Albums „Crawler“ hallt übers Rollfeld. Trauma und Abhängigkeit vor der steinernen Nazi-Bombast-Architektur im Hintergrund. Eine kongeniale Kombi. Talbot schleudert noch kurz sein Mikro durch die Lüfte – sein „microphone spin“ ist das Zeichen zur Attacke. Er teilt die Fanmeute in zwei Hälften; mit der Aufforderung „Let’s Collide!“. Und dann gibt die Band Gummi. Vor der Bühne Old School Pogo statt Mosh Pit. In der Musik der Idles ist Oi Punk der Spätsiebziger mit Bands wie Sham 69 oder Cockney Rejects ebenso vorhanden wie der Brutalismus von Nick Caves Urband The Birthday Party.

Jeder Song ist seine eigene Show. Mal steigt der Basser weiterspielend ins Publikum, dann wird gekonnt das Tempo ge- und zerdehnt. Nur volle Pulle ist nicht ihr Metier. Die Idles wollen die Herausforderung. Ein disruptiver Moment ist die längere Ansage von Talbot zum Tod seiner Tochter. Schicksal und Sühne; doch es muss weitergehen. Auf und vor der Bühne. Auch hier frappierende (persönliche) Parallelen zum großen Schmerzensmann Nick Cave. Es geht also weiter, weiter, immer weiter; um mit der Torwart-Titan Olli Kahn zu sprechen. Die Idles sind (auch) Meister des Tempowechsels, versierte Musiker dazu. Neo Baller Punk der exquisiten Sorte, auch wenn sie es hassen, als Punks bezeichnet zu werden.

Während Wolf Alice also vor allem Songs ihres neuesten Albums spielen, spielen Alt-J vor allem Songs ihres ältesten Albums: „An Awesome Wave“ von 2012. Das ist in der Regel kein gutes Zeichen für die gegenwärtige Relevanz einer Band. Allerdings ist die Dominanz ihres noch immer beliebtesten Albums wohl dem Festivalkontext geschuldet: Wenn viele Gelegenheitshörer im Publikum sind, wie bei einem Festival unvermeidbar, warum nicht vor allem die alten Hits spielen? So kommen nach einer Handvoll neuer Songs, die einem breiten Publikum eher unbekannt sind („In Cold Blood“ und „The Actor“ zum Beispiel), in der zweiten Hälfte fast nur Klassiker wie „Fitzpleasure“, „Dissolve Me“ und als Abschluss „Breezeblocks“.

Sänger Joe Newman und Keyboarder Gus Unger-Hamilton sind recht statische Präsenzen auf der Bühne, die Energie und die Dynamik kommt vom tollen Drummer Thom Sonny Green (der an diesem Abend ein T-Shirt der Nineties-Hip-Hopper The Pharcyde trägt): Er spielt ohne Becken, schlägt stattdessen auf Cowbell und Tamburin und hat auch noch Bongos in seinem Kit. Wenn also die sehr ernsten, ehrgeizigen Art-Rock-Melodien seiner Kollegen nicht immer die Aufmerksamkeit halten, bieten Greens Beats eine aberwitzige Ablenkung.

Fulminanter Abschluss

Aber auch Maximo Park, Fil Bo Riva, Barns Courtney und Sophie Hunger stehen den Shows ihrer Kollegen in nichts nach – auch am Samstag beweist das Tempelhof Sounds, dass ihr Line-up alles mitbringt, was es für ein gelungenes Festival-Wochenende braucht. Den fulminanten Abschluss liefern Muse, deren Set vom neuen „Will Of The People“ eingeläutet wird. 21 Songs inklusive der Hits „Supermassive Black Hole“, „Knights of Cydonia“ und „Madness“ lassen keine Wünsche offen. Da brechen selbst noch die neugierigen Zaungäste am Tempelhofer Feld in Jubel und Beifall aus.
Text: Jan Jekal, Ralf Niemczyk, Kristina Baum