The Beatles – Abbey Road


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Fast 40 Jahre nach dem Ende der Beatles ist es nichts Ungewöhnliches, dass zeitgenössische Bands via Webcam oder Blog oder MySpace oder Twitter oder Email-Newsletter allen, die es wissen wollen oder nicht, in Wort und Bild von ihren Fortschritten im Studio erzählen. Die 60er Jahre mögen auf kreativer Ebene für die Popmusik ein goldenes Zeitalter gewesen sein; was die Versorgung der Öffentlichkeit mit Nachrichten betrifft aus dem Bereich, der später Popkultur genannt werden sollte, waren sie das nicht. Und so mochte die Chronologie der letzten drei Beatles-Alben in ihrem Kreativitätsfortschritt für damals interessierte, aber zwangsläufig nicht so gut informierte Beatles-Fans durchaus einer Logik gefolgt sein.

Im November 1968 war das Doppelalbum THE BEATLES veröffentlicht worden, das „Weiße Album“. Trotz erster Spannungen innerhalb der Band, trotz der Tatsache, dass es sich dabei eher um eine Kollektion von Solosongs als um ein geschlossenes Gruppenwerk handelte – bei den Aufnahmen waren nie mehr als zwei Beatles gleichzeitig im Studio -, gilt es für viele neben REVOLVER als das beste Beatles-Album. Im September 1969 folgte ABBEY ROAD, das für viele neben RE-VOLVER und dem „Weißen Album“ als das beste Beatles-Album gilt. ABBEY ROAD war in seiner Ambitioniertheit durchaus mit SGT. PEPPER (das für viele neben REVOLVER etc. pp.) zu vergleichen, aber es enthielt die besseren Songs. Und schließlich LET IT BE, das Resultat der ominösen „Get Back Sessions“, im Mai 1970 veröffentlicht, knapp vier Wochen nachdem Paul Mc-Cartney das Ende der Beatles verkündet hatte, als großer, kleiner Appendix an die Karriere der größten Band aller Zeiten. Dabei hatten die Beatles ABBEY ROAD nach LET IT BE aufgenommen, aber es wurde vorher veröffentlicht. Das, was die Öffentlichkeit für das vorletzte Album der Beatles hielt, war in Wirklichkeit ihr letztes. Vom 2. bis 31. Januar 1969 waren die Beatles – zunächst in den Twickenham-Filmstudios in London, später im Kellerstudio des Apple-Gebäudes in Savile Row – auf Initiative Paul McCartneys zu Rehearsals für einen letzten großen Liveauftritt zusammengekommen (der dann eher kleiner ausfiel am 30. Januar auf dem Dach des Apple-Hauses). Mc-Cartney hatte nicht wahrhaben wollen, dass die Beatles im Verfall begriffen waren. Im Bemühen, sie wieder zusammenzuschweißen, regte er eine Tournee an, eine Idee, die von John Lennon, George Harrison und Ringo Starr abgelehnt wurde. Die Band einigte sich schließlich au) einen einzigen Liveauftritt vor spektakulärer Kulisse: in einem römischen Amphitheater, in der Sahara oder auf einem Schiff auf offenem Meer. Proben und Konzert sollten von Regisseur Michael Lindsay-Hogg für ein Fernsehspecial gefilmt werden. John Lennon bestand darauf, dass die Songs „back to the roots“, so einfach wie möglich sein, so live wie möglich aufgenommen werden sollten. Das Projekt bekam den Arbeitstitel „Get Back“. Im bis heute nicht auf DVD erschienenen Dokumentarfilm „Let It Be“, den Lindsay-Hogg aus über 90 Stunden Material destilliert hatte, wird deutlich, weshalb die Beatles Ende Januar das Projekt auf Eis gelegt hatten und es später nur widerwillig zu Ende brachten. Die Atmosphäre war frostig, Lustlosigkeit si’egte über Kreativität, und die Differenzen innerhalb der Gruppe waren so groß, dass George Harrison für ein paar Tage ausgestiegen war. Es spricht für den Genius der von Egoproblemen, Streitigkeiten und Emanzipationsbestrebungen bewegten Beatles der Spätphase, sich – wiederum auf Initiative McCartneys – noch einmal zusammenzureißen, um ein großartiges Album aufzunehmen, in dem festen Bewusstsein, wie sie später einräumten, dass es ihr letztes als Gruppe werden würde.

Der bei den „Get Back Sessions“ ausgebootete George Martin willigte ein, AB-BEY ROAD zu produzieren. Aber zu seinen Bedingungen. Die Beatles akzeptieren, es schien alles beim Alten zu sein. Musikalisch ist ABBEY ROAD wie schon THE BEATLES vorher ein musikalischer Gemischtwarenladen, der in seiner Diversität eine Bestandsaufnahme der Popmusik zur damaligen Zeit darstellt, indem es die Summe der Möglichkeiten abbildet. Die Beatles lebten nicht in einem luftleeren Raum, auch sie als große Beeinflusser waren den Einflüssen von anderen Bands und Musikern ausgesetzt. So wurde das Album von Lennons Funkrocker „Come Together“ bis hin zu McCartneys Miniatur „Her Majesty“ zu einem elaborierten Mix aus Blues- und Hard- und Progrock, aus Balladen und Novelty-Songs und Melodien, die unsterblich geworden sind. Dazwischen Großartiges wie Lennons heavy Bluesrocker „I Want You (She’s So Heavy)“, der wunderbare vom Moog-Synthesizer begleitete Harmoniegesang von „Because“ un d nicht zuletzt die beiden George-Harrison-Kompositionen „Something“ und „Here Comes The Sun“, die ihren Autor spät – aber nicht zu spät-als dem Team Lennon/McCartney ebenbürtigen Songschreiber etablierten. Die Idee von McCartney und Produzent Martin, eine Reihe von fertigen und unfertigen Songs („You Never Give Me Your Money“, „Sun King“, „Mean Mr. Mustard“, „Polythene Pam“, „She Came In Through The Bathroom Window“, „Golden Slumbers“ und „Carry That Weight“) auf der B-Seite der LP zu einem 16-minütigen, großorchestrierten Medley zusammenzufügen, war aus der Not geboren, aber höchst effizient in ihrer Umsetzung. Diese Suite gehört zum künstlerisch anspruchsvollsten, das unter dem Namen The Beatles erschienen ist, sie ist wie ihre Urheber mehr als die Summe ihrer Teile.

Der Gedanke, das Musikbusiness sei 1969 unschuldiger als heute gewesen, gehört zu den großen Mythen der Popkultur, die ohne Legenden und Halbwahrheiten so spannend wäre wie das richtige Leben. Zeitzeugen wie Marianne Faithfull (im ME-Interview im März 2002) betonen, dass der Pop schon immer mehrheitlich von Gaunern und Geschäftemachern, die auf ihren eigenen Vorteil aus waren, kontrolliert wurde und nicht von Menschen, die aus Liebe zur Musik ins Geschäft eingestiegen sind. „Woodstock“, die drei Tage Love und Peace, war weniger der Ausdruck eines Lebensgefühls als dessen erste kommerzielle Ausschlachtung in großem Stil, ein Ereignis, das via Medienhype zur Legende stilisiert wurde. Aber die Umstände der Aufnahme und Veröffentlichung von ABBEV ROAD belegen, dass das Business damals nicht so starr und straff organisiert und industrialisiert gewesen ist wie heute. Die Mehrzahl der Songs auf dem Album wurde in vier Wochen zwischen Anfang Juli und Anfang August 1969 aufgenommen, letzte Hand an die Musik wurde am 20. August gelegt. Bereits fünf Wochen später, am 26. September, stand das Album in den Läden. Heute undenkbar bei genau kalkulierten Business- und Marketingplänen und Vorläufen und Deadlines. Heute genauso undenkbar: die Bedingungen, unter denen der Fotograf lan Macmillan das Foto für das Albumcover aufnehmen musste. Ganze zehn Minuten wurden ihm gewährt, um die Beatles zu fotografieren, wie sie am Vormittag des 8. August den Zebrastreifen vor den Abbey-Road-Studios im Londoner Stadtteil St. Johns Wood überquerten. Zehn Minuten haben ausgereicht, um das Foto für das bekannteste Plattencover der Welt zu schießen. Zehn Minuten für eines der berühmtesten Fotos des 20. Jahrhunderts.