The End


Für die Fans war er ein Heiliger, für ihre Eltern das Symbol des Bösen. Seine Konzerte waren schwarze Messen, seine Drogenexzesse fütterten die Schlagzeilen. Nur sein Tod war irritierend unspektakulär, zumindest in der offiziellen Version. Doch die wollte niemand glauben. Seit 20 Jahren hält sich hartnäckig das Gerücht, Doors-Sänger Jim Morrison lebe noch. Kein Wunder: Die Todesurkunde war 20 Jahre lang verschollen. Die ME/Sounds-Mitarbeiter Ben Posener und Stephan Karkowsky haben sie gefunden.

Mittwoch, 7. Juli 1971

Ein Sargwagen wird über die kleinen Kieswege des Pariser Prominentenfriedhofs Pere Lachaise in die sechste Division geschoben. Nur fünf Menschen warten dort auf den Toten, für mehr war auch kaum Platz. Das frische Grab mußte wie ein Furunkel aus dem Friedhof herausoperiert werden. Die Toten ringsum liegen schon seit über 100 Jahren hier, die Namen auf ihren gewaltigen Grabsteinen sind unleserlich geworden, längst ausradiert von Wind und Regen. Auf dem schmalen Fußweg drängeln sich der Konzert-Manager Bill Siddons. die Pariser Filme-Macher Agiles Varda und Jacques Demy, Alan Ronay, ein guter Freund, und die Frau des Toten. Pamela Courson.

An diesem Tag sind sie die einzigen, die wissen, wer hier beerdigt wird. Und die einzigen, die wissen, woran er gestorben ist. Als Pamela Courson die erste Schaufel Erde auf den Sarg wirft, dauert es noch 48 Stunden, bis die Weltöffentlichkeit offiziell erfährt: James Douglas Morrison ist tot.

Zwei Tage später kehrt Doors-Manager Bill Siddons nach Los Angeles zurück und gibt eine Presse-Erklärung ab. Die Nachrichtenagentur UPI meldet kurze Zeit später: Jim Morrison starb am 3. Juli im Alter von 27 Jahren in Paris. Er habe über Atembeschwerden und Übelkeit geklagt und daraufhin ein Bad genommen. Dort fand ihn seine Frau, wenig später, bewußtlos. Sie rief einen Notarzt, der jedoch nur noch den Tod Morrisons feststellen konnte. Als Todesursache gab der Arzt Herzversagen an.

Herzinfarkt bei einem 27jährigen? Die Rockpresse reagiert skeptisch. Warum gab es keine Autopsie? Wo ist die Todesurkunde? Wer war der Arzt, der den Tod festgestellt hat? Fragen, auf die es keine Antwort gibt. Pamela Courson und Bill Siddons schweigen. Die ersten Gerüchte tauchen auf: Morrison habe seinen Tod nur vorgetäuscht – eine Möglichkeit, die gut in das Image des Rockstars paßt. Schon in den Anfangstagen der Doors sprach Morrison davon, seinen Tod zu inszenieren, um die Öffentlichkeit zu schockieren. Konnte sein Ableben in Paris nicht auch nur ein makabres Täuschungsmanöver sein? Schließlich wollte Morrison in seinem Exil einen Schlußstrich unter seine Vergangenheit ziehen, erinnert sich Morrisons Freund Hervé Muller (41), der den Rockstar die letzten Wochen in Paris begleitete: „Ersah sich selbst in erster Linie als Dichter. Die Rockmusik war für ihn nur ein Medium, um seine Texte einer größeren Öffentlichkeit zugänglich zu machen. „

In Paris wollte Morrison sich vom Image des bekifften, ständig besoffenen Hampelmannes befreien, den er auf der Bühne darstellte. Die Öffentlichkeit war längst mehr an Morrisons Drogenexzessen und Skandalen interessiert als an seinen Texten, und das hatte er satt. Es bot sich also an, den Rockstar Morrison sterben zu lassen, um unbelastet als Poet weiterzuleben.

Unterdessen wächst der Mythos Morrison f Jahr für Jahr. 1974 stirbt  Pamela Courson an einer Überdosis Heroin. ‚ Sie nimmt ihr Wissen um Morrisons Tod mit ins Grab. 1980 erscheint die aufwendige Biografie „Keiner kommt hier lebend raus“, geschrieben von den Morrison-Vertrauten Jerry Hopkins und Danny Sugerman. Ihr Fazit nach neunjähriger Recherche: „Niemand weiß genau, wie Morrison gestorben ist. “ Rechtzeitig zum 20. Todestag kommt jetzt die erste Morrison-Verfilmung in die Kinos: „The Doors“, ein Film von Oliver Stone („Platoon“, „Bora On The FourthOfJuly“).

Aber auch Stone muß sich auf Vermutungen stützen. Die endgültigen Beweise für Morrisons Tod hat er nicht gefunden. Die Sterbeurkunde, und der Arzt, der den Totenschein ausgestellt hat, bleiben weiter verschwunden. Der Mythos Morrison lebt weiter, die Biografien und Doors-Platten verkaufen sich besser denn je. Dank der Schlampigkeit der Biografen.

Paris, 7. Februar 1991

Wir gehen einen schmalen Kiesweg hinauf in die sechste Division des Pariser Prominentenfriedhofs Pere Lachaise. An dem kleinen Grab stehen Jugendliche in Jeans und Winterjacken. Die Grabsteine ringsum sind über und über mit Graffiti beschmiert – Zitate aus Doors-Texten und Botschaften an den Toten, der hier begraben liegt. „It is never the end, my only friend“, hat jemand mit Filzstift geschrieben, in Anspielung auf den Morrison-Song „The End“. Von Sabine aus Dortmund stammt der Spruch „Less hope, more dope!“. Saskia und Stark aus Rotterdam haben sich mit einem schlichten Jim, we love you!“ verewigt.

Der einzige Grabstein ohne Graffiti ist der von Jim Morrison, ein schwerer Granitblock mit einer griechischen Inschrift und einer Gedenktafel: James Douglas Morrison, 1943-1971″. Auf dem Stein eine Flasche Rotwein Marke „Bien Venue“ aus dem Supermarkt und eine Flasche Milch – die ist für die Friedhofskatze.

„Diesen Grabstein hat Morrisons Vater bezahlt“, erzählt Hélène (19). Aufgestellt wurde er kurz vor Weihnachten. Die Morrison-Büste, die jahrelang das Grab zierte, hat ein Fan im Mai 1988 mitgehen lassen.

Die Stimmung an Morrisons Grab hat etwas Festliches, Eingespieltes. Neuankömmlinge werden mit Hallo begrüßt; ab und zu macht die Rotweinflasche die Runde, oder es kreist ein Joint. So geht das schon seit fast 20 Jahren. Die Friedhofsverwaltung schätzt die Zahl der Morrison-Touristen auf 50.000 im Jahr – so viele Besucher hatten die Doors zuletzt in gut besuchten Konzerten in den 60er Jahren.

Auch Doors-Manager Bill Siddons kommt heute noch ans Grab, wann immer er in Paris ist. Ganz wohl ist ihm bei dem Anblick allerdings nicht. „Meine Erziehung sagt mir, ein Grab sollte etwas Heiliges, etwas Persönliches sein. Graffiti haben da nichts zu suchen. Auf der anderen Seite liegt ein gewisser Reiz darin, zu sehen, daß Jim nach seinem Tod immer noch Chaos verursacht“, sagt er.

Rue Beautreillis

Eine enge Straße nahe dem schicken Place des Vosges im altehrwürdigen Pariser Marais-Viertel. Zwei Restaurants, ein Weingeschäft mit Stehbar, eine Judo-Schule. Und mittendrin ein teures Appartmenthaus, die Rue Beautreillis Nummer 17. Hier lebte Jim Morrison die letzten vier Monate seines Lebens. Hinter der schweren Eingangstür ein Hausflur, links die enge Wohnung der Concierge, Madame Pascoa. Wir fragen nach der ehemaligen Wohnung von Jim Morrison. David, der Sohn der Concierge, zeigt auf ein Klingelschild neben einer verschlossenen Glastür.

Wo früher Morrisons Saufkumpane geklingelt haben, steht jetzt der Name Hanocq. Aber eine Familie Hanocq gibt es in diesem Haus nicht. In Morrisons Wohnung wohnt jetzt eine Madame Duchesne. Nachdem ihr Name erstmals veröffentlicht wurde, mußte sie sich mit dem Decknamen vor Neugierigen schützen. Wir möchten die Wohnung gerne sehen, aber Madame will nicht. „Sie sind nicht die ersten, die hier klingeln, und meine Antwort war immer nein!“ Sie sagt über die Sprechanlage: „Ich bin nicht seine Frau“, und das Gespräch wird einseitig beendet. Der einzige Fremde, der in das berühmte Badezimmer darf, ist der Klempner.

Als Morrison hier noch lebte, war auch Herve Muller ein gern gesehener Gast in der Rue Beautreillis 17.1971 trug Herve noch eine Nickelbrille und lange Haare. Heute sind die Haare kürzer, und sie werden langsam grau. Statt Nickelbrille trägt er ein Designermodell. Muller ist heute Journalist. Wir treffen ihn im „La Coupole“, einem bekannten Künstlertreff am Boulevard du Montparnasse. Hier hat er schon mit Morrison gesessen.

Muller erinnert sich an die Nacht, als er Morrison das erste Mal sah: „Ein Freund von mir hatte ihn in einem In-Club namens Rock ’n‘ Roll Circus aufgelesen. Sie hauen Jim da rausgeschmissen, weil er so betrunken war. Keiner hatte ihn erkannt, bis auf meinen Freund, und der brachte ihn mit zu mir. Es war vier Uhr morgens. Ich öffnete die Tür, Jim sagte nur ‚Hello‘, fiel aufs Bett und schlief ein. Das war’s. „

Am nächsten Morgen lädt Morrison Herve Muller und seine Freundin Yvonne zum Frühstück ein. Es gibt Kaviar und Champagner. „Wir haben uns über Gedichte und Filme unterhalten“, sagt Herve, „über alles, nur nicht über Rock V Roll.“ Zum Durstlöschen kippt Morrison Chivas-Whisky. „Er war ziemlich schnell betrunken; die Kellner wurden aufmerksam, aber sie ließen ihn in Ruhe: Sie wußten, der hat eine American-Express-Karte.“

Auch diesen Rausch schläft Morrison in der Wohnung von Muller aus, bis der ihn zurückbringt zu seiner Frau in die Rue Beautreillis.

Im Nachhinein ist es für Muller kaum verwunderlich, daß der Rockstar so jung starb. Und er glaubt auch zu wissen, wie er starb. Nachdem Muller jahrelang nichts mehr davon hören wollte, hat er vor zwei Jahren mit den Recherchen für ein Buch über Morrisons Todesnacht begonnen. Und er hat mit den richtigen Leuten geredet. Mit Leuten aus dem Milieu, in dem sich Morrison die letzten Wochen vor seinem Tod bewegt hat: Dealer, Junkies und Trinker.

Freitag, 2. Juli 1971

Jim Morrison ist schon seit Tagen deprimiert, aber heute abend ist es besonders schlimm. Er möchte gern schreiben, aber er kann nicht. Vergeblich versucht Pamela, ihn aufzuheitern. Sie ruft Morrisons Freund Alan Ronay an; gemeinsam gehen sie in einem Restaurant im Marais-Viertel essen. Während des Essens ist Morrison ungewöhnlich ruhig. Später bringt er Pamela nach Hause. Er bleibt dort aber nicht; er sagt, er will ins Kino gehen. Dort läuft „Pursued“, ein alter Western mit Robert Mitchum. Ob er sich den Film tatsächlich ansieht, ist unklar. Sicher ist, daß er später im Rock ’n“ Roll Circus auftaucht, dem heutigen Whiskey-ä-Go-Go. Hier läßt er sich in Ruhe vollaufen.

Aber er hat noch einen anderen Grund, in den Club zu gehen. Herve Muller: „Jim sollte dort einen Drogendeal für Pamela und ihre Pariser Junkie-Freunde finanzieren. Pamela war seit einiger Zeit heroinsüchtig. Der Dealer bot ihm an, die Ware zu testen. Obwohl Morrison selbst kein Junkie ist, läßt er sich in seinem betrunkenen Zustand darauf ein. Er geht auf die Toilette, und dort schnieft er ein wenig von dem Heroin, das der Dealer ihm gegeben hat. Im Beisein von Pamelas Drogenfreunden verliert er das Bewußtsein. Das Heroin ist sehr stark und Morrison bereits volltrunken – eine tödliche Mischung.“

Der Club-Besitzer wird aufmerksam. Er will Morrison raushaben, jeden Skandal vermeiden. Schließlich ist der einstige In-Club der Polizei bereits seit längerem als Junkie-Treff bekannt. Aber wohin mit dem Bewußtlosen? Am Vorderausgang drängeln sich die Besucher, da kann er auf keinen Fall durch. Also schließt der Club-Chef Pamelas Freunden die Hintertür auf, die direkt ins weltberühmte Revuetheater Alcazar führt. Da an diesem Abend keine Show stattfindet, tragen sie Morrison über die Bühne und hinaus auf die Straße. Dort verfrachten sie ihn in ein Auto und bringen ihn zurück in die Rue Beautreillis.

Pamela öffnet die Tür. Sie ist es gewohnt, daß Morrison volltrunken nach Hause gebracht wird, und legt sich wieder schlafen. Die Junkies packen Morrison in die Badewanne und verschwinden.

Hervé Muller: „Wenn jemand eine Überdosis erwischt hat, versucht man ihn zum Betspiel mit kaltem Wasser wieder munter zu machen. Aber weil er auch betrunken war, hatte das vielleicht sogar einen negativen Effekt. „

Pamela Courson ist selbst noch nicht wieder ganz nüchtern, als sie Morrisons Leiche entdeckt. Der Anblick versetzt ihr einen Schock, von dem sie sich nie wieder ganz erholt. Bekannte erzählen, daß sie vor ihrem eigenen Drogentod fest davon überzeugt war, daß Jim in ihrem Hund weiterlebte. Herve Muller behauptet: Pamela sucht an diesem Morgen zunächst Hilfe bei ihren Freunden – Freunde, die ihr sagen können, daß Jim wirklich tot ist. Sie ruft Alan Ronay und Agnes Varda an. Die wissen, daß jede Verbindung von Morrisons Tod mit Drogen einen Riesenskandal heraufbeschwören würde. Und sie kennen einen Arzt, der helfen könnte, diesen Skandal zu verhindern. Er hat in dieser Nacht Notdienst, in einer Praxis direkt gegenüber vom Notre Dame. Ob der Arzt wirklich wußte, woran Morrison gestorben ist, bleibt unklar. Sicher ist: Er unterschreibt den Totenschein und gibt als Todesursache Herzversagen an. Den Todeszeitpunkt legt er nach Pamelas Angaben auf fünf Uhr früh fest. Eine Autopsie wird nicht angeordnet.

9. Februar 1991, Paris

Wenn Morrisons Sterbeurkunde überhaupt existiert, dann in den Archiven des vierten Arrondissements, zu dem das Marais-Viertel gehört, in dem Morrison zuletzt gewohnt hat. Das Verwaltungsgebäude liegt am Place Baudoyer, nahe dem Pariser Rathaus. Im zweiten Stock. Büro 9, das Standesamt 1 . Hier ist jeder gespeichert, der in diesem Viertel geboren wurde, geheiratet hat oder gestorben ist. Wir fragen nach einem Amerikaner namens Morrison, der am 3. Juli 1971 in der Rue Beautreillis starb. Die zierliche Beamtin hinter dem Auskunftsschalter verschwindet kurz in einem Nebenraum, dann kommt sie wieder und schüttelt den Kopf.

Eigentlich hatten wir auch nichts anderes erwartet. Aber was ist, wenn Morrisons Name schlichtweg falsch eingeordnet oder falsch buchstabiert worden wäre? Wir gehen alle möglichen Schreibweisen durch. Die Beamtin erledigt mehrere Gänge für uns. aber sie bleibt geduldig. Schließlich bitten wir sie. unter seinem Vornamen nachzusehen – bei „J“ wie James und bei „D“ wie Douglas.

Und dann können wir unseren Ohren nicht trauen. „Voilà“, sagt sie, „wieviele Kopien hätten Sie gern?“ Und da ist es endlich, schwarz auf weiß: James Douglas Morrison. Der Doors-Sänger wurde unter seinem zweiten Vornamen registriert. In der Rubrik „Beruf steht Schriftsteller. Aber wichtiger noch: Auch der Name des Arztes steht drauf: Michel Gagnepain.

Der Arzt ist heute 54. und er weigert sich, über Morrison zu reden – auch gegenüber Herve Muller, der ihn gerne für sein Buchprojekt über Morrisons Tod befragt hatte. „£5 ist ja auch nicht sicher, ob er einfach nicht erkannt hatte, was mit Morrison los war, oder ob er geschmiert wurde. Er mußte jedenfalls immer Angst haben, daß man ihm Schlampigkeit bei der Untersuchung vorwerfen konnte. Und er trägt auch immer noch die Verantwortung – in Frankreich gilt das für Ärzte ein Leben lang“, sagt Hervé.

Und die anderen Mitwisser? Was haben sie zu verbergen? Und warum schweigen sie noch heute? Sie wollten keinen Skandal. Stattdessen nährten sie unfreiwillig einen Mythos, der die Beteiligten ein Leben lang nicht losläßt. Daß die Last ihres Geheimnisses auch heute noch schwer wiegt, zeigt sich in den Worten von Bill Siddons: „Ich würde viel lieber über Jims Leben reden, aber ihr Journalisten fragt immer nur nach Jims Tod. “ Aber vielleicht ist damit jetzt endgültig Schluß.