The Net Big Thing Internet


Der Datenhighway dominiert die Medienszene. Für die Popkultur besonders interessant: das Internet. ME/Sounds sagt, was es ist, wie es geht, was es bietet und wieviel es kostet

Der Kanzler war wie immer top informiert – das Stichwort Datenautobahn entlockte ihm in einer Talkshow einige wortreiche Ausführungen über den Zustand des ostdeutschen Straßennetzes. Doch nicht nur unsere Politiker stehen den heraufdämmernden Online-Zeiten ein wenig rat- und hilflos gegenüber – die Fachpresse macht da kaum eine Ausnahme. Jürgen Grollius (Chefredakteur der „PC-Praxis“) nennt das größte Netzwerk der Welt „liebenswürdig chaotisch, schwer bezähmbar“. Aber auch bei den selbsternannten Propheten der digitalen Heilsbotschaft ist keine Rettung zu erwarten. Sie scheinen jeden Augenblick mit einer gigantischen, weltumspannenden Kommunikations-Revolution zu rechnen. Im direkten Anschluß reagieren dann sämtliche Computer auf gesprochene Befehle und ersetzen in einem Aufwasch Fernseher, Fax, Telefon, Radio, Gameboy, CD-Player und Videorekorder. Was um alles in der Welt ist da los? Warum faselt plötzlich jeder, der was auf sich hält, von interaktiv, multimedial oder Information-Highway? Was passiert da draußen in den Netzen? Und welche Auswirkungen wird das haben? Entledigen wir uns kurz der leidigen Begriffshülsen: Interaktiv nennt die Branche alles, das auf Eingaben des Benutzers mehr oder weniger so reagiert, wie er oder sie sich das vorstellt. Beispiel: Sie klicken auf den Hilfe-Button und parbleu! ein Textfenster mit Hilfetexten wird eingeblendet. Multi(special)

media ist ganz was tolles. Auf Ihrem Monitor sehen Sie ein halbwegs flüssig ablaufendes Video mit 256 Farben von der Größe einer Zigarettenschachtel, dazu tönen aus den Boxen Ihres Multimedia-PCs ein paar Takte Musik. Gesamtlänge: ca. 30 Sekunden. Klare Sache-. MTV, Viva & Co. können gegen die geballte Technikmacht eines Multimedia-PCs nicht mehr an. Bleibt die Datenautobahn, oder wie wir Insider das stilecht nennen: Der Information-Highway. Eigentlich meinte Bill Clinton im Wahlkampf 1993 ein erst noch zu installierendes Glasfaser-Hochgeschwindigkeitsnetz. Heute heißt das, daß Ihr PC über ein Modem an die Telefonleitung angeschlossen ist und Sie sich in ungefähr 40 Minuten ein 20 Sekunden langes Zigarettenschachtel-Video von Aerosmith auf Ihren Rechner laden können. Daß es die bildschirmfüllende, qualitativ um Lichtjahre bessere Version regelmäßig kostenlos im Fernsehen gibt — who cares? Also alles nur Humbug? Ein Werbetrick der Telekom (die ja auch Werbespots für Video on demand zeigt und sich wenig darum schert, daß es das a) nicht gibt, b) so schnell nicht geben wird und es c) noch lange nicht raus ist, ob das überhaupt jemand haben will)? Ganz so ist es nun auch wieder nicht. Schuld an der derzeitigen Hektik und Medien-Hysterie ist die jüngste Entwicklung des Internet, jenem Verbund aus derzeit schätzungsweise 5 Millionen Rechnern aus über 90 Ländern mit ebenfalls geschätzten 30 Millionen Anwendern weltweit. Angefangen hat das alles mit ein paar vernetzten Rechnern des amerikanischen Militärs. Dieses militärische Netzwerk wurde nach und nach von den Unis genutzt. Der Rechnerverbund wuchs allmählich an, immer mehr gingen auch außeramerikanische Forschungseinrichtungen ins Netz. Überwiegend von Steuergeldern finanziert, entwickelte sich das Internet nach und nach zum wichtigsten Kommunikationsmittel der Universitäten und Forscher der Welt. Das Internet wuchs zwar im Laufe der )ahre immer weiter an, allerdings kümmerte sich außerhalb der Unis kaum jemand um diese Entwicklung. Das änderte sich langsam, aber sicher ab 1989/1990. Zu diesem Zeitpunkt entwickelte Tim Bernes-Lee am europäischen Kernforschungszentrum CERN etwas, das sich „World Wide Web“ nannte. Wie in einem Spinnennetz sollten von den einzelnen gespeicherten Dokumenten weltweite Verbindungen zu allen möglichen anderen Dokumenten im Netz laufen. Dank der allgegenwärtigen Verknüpfungen konnte der Benutzer komfortabel jede gewünschte Datei auf seinen heimischen Bildschirm holen. Das World Wide Web wuchs als kleiner Teilbereich des großen Internet langsam und recht beschaulich vor sich hin. Im Juni 1993, nach drei vollen Jahren, unterstützten weltweit erst 130 Rechner Datenübertragung ä la World Wide Web. Im Dezember darauf hatte sich diese Zahl plötzlich etwa verfünffacht (623), ein weiteres halbes Jahr drauf noch mal verdoppelt: Im )uni 1994 gab es 1.265 WWW-Server im Internet. Das Web schien nicht mehr zu wachsen, es explodierte. Der endgültige Beweis für das exponentielle Wachstum des Web kam dann im Dezember 1994. Die Zahl der Server hatte sich wiederum verzehnfacht – WWW-Statistiker Matthey Gray ermittelte 11.576 Web-Rechner. Zu diesem Zeitpunkt kamen täglich 50 bis 100 neue Server dazu. Heute schätzt man die Zahl der WWW-Server auf 50.000 -Tendenz weiterhin steigend. Der Hauptgrund für den umwerfenden Erfolg des WWW-Konzepts heißt Mosaic. Erst mit dieser im Juni 1993 eingeführten Software (und ihren Nachfolgern und Ablegern) wurde die Bedienung des Internet einfach und ansprechend. Vorbei waren die Zeiten, wo sich der Internet-Benutzer mit kryptischen Befehlen herumschlagen mußte – jetzt reichte ein Mausklick auf einen Textverweis, und die entsprechende Datei wurde auf den Rechner geholt, ganz gleich, woher. Durch Mosaic wurden die ungeheuren Datenmengen des Internet plötzlieh zu einer Art riesigen Online-Zeitschrift, durch die Sie sich nach Herzenslust durchklicken können. Mehr noch: Unterstützt wurde auch die Übertragung von Grafiken, bewegten Bildern und Ton. Jetzt ist es über WWW zum Beispiel möglich, ganze Zeitschriften mit vollständigem Layout an jeden beliebigen Computer der Welt zu übertragen. Der Benutzer blättert durch die elektronischen Seiten, bei einer Plattenkritik kann er sich zum Beispiel Ausschnitte des entsprechenden Ciips anschauen, bei einem Interview auswählen, ob er es lesen oder lieber hören will: Die Möglichkeiten sind enorm. Doch das ist nicht nur möglich – das wird bereits gemacht. So publiziert Mediengigant Time Warner seine Zeitschriften in digitaler Form. Ein Mausklick auf die Titelzeile, und auf Ihrem Bildschirm wird das Heft an der entsprechenden Stelle aufgeschlagen. IUMA, das Internet Underground Music Archive, stellt Unmengen an Sound- und Videoclips aus allen möglichen Stilrichtungen ins WWW. Der Spiegel ist mit aktuellen Meldungen im Netz ebenso vertreten wie die aktuelles Ausgabe der TAZ. Außerordentlich beliebt sind auch die digitalen Ausgaben von Playboy und Penthouse. Mit dem Erfolg des World-Wide-Webs wächst auch das Internet selbst: e komfortabler, bunter und unterhaltsamer das Angebot im WWW wird, desto mehr Leute wollen daran teilhaben. So schätzt man, daß sich am Ende dieses Jahrtausends rund 300 Millionen Menschen im Internet tummeln werden. Klar, daß jeder an dieser Entwicklung verdienen will. Noch sind fast alle Angebote im Internet kostenlos – aber die Kommerzialisierung zeigt sich allenthalben. So tauchen plötzlich an zentralen Stellen Firmen wie Microsoft, SGI oder AT&T als Sponsoren auf. Die Zahl der kommerziellen Server hat sich im letzten Quartal 1994 fast verdoppelt. Allerdings hat das Netz zur Zeit mit erheblichen Problemen zu kämpfen: Durch die stetig wachsende Popularität des World-Wide-Webs sind viele Leitungen fast rund um die Uhr überlastet, einige zentrale Server fast nie zu erreichen. Spötter übersetzen daher WWW bereits als weltweites Warten und der Chaos Computer Club prognostiziert gar für 1996 den Kollaps des Netzes. Durch die Überlastung droht das Metz seinen eigentlichen Aufgaben nicht mehr nachkommen zu können — mit dem Effekt, daß aus dem Internet ziemlich schnell ein exklusives Uni-Netzwerk werden könnte. Aber selbst wenn Sie es geschafft haben, zum Rechner Ihrer Wahl durchgestellt zu werden, lassen die zähen Übertragungszeiten kaum Freude aufkommen. Wenn ich nach jedem Mausklick ein paar Sekunden warten muß, minutenlang zuschaue, wie mein Rechner Punkt für Punkt Grafiken aufbaut, dann vergeht mir der Spaß an der digitalen Ausgabe des Time Magazines. Wie dem auch sei: Diese und sämtliche anderen Probleme, die die Entwicklung im Internet mit sich bringen wird, wird auf die eine oder andere Weise gelöst werden. Denn hier geht es unterm Strich für alle Beteiligten um Geld. Um verdammt viel Geld: Das Internet wird ein Multi-Milüarden-Dollar-Markt, gegen den Hollywood wie ein Tante-Emma-Laden wirken wird.