Third World


Die Sklaverei in Jamaika war im Jahre 1865 bereits seit drei Jahrzehnten offiziell abgeschafft, aber geändert hatte sich für die farbige Bevölkerung nicht viel. Sie war noch immer den weissen britischen Kolonialherren auf Gedeih und Verderb ausgeliefert; die Briten besaßen das Land, die Produktionsmittel und das Geld, die Nachfahren der schwarzen Sklaven nichts als Stolz und Hoffnung. Der Jamaikaner Paul Bogle war der Anführer einer Rebellengruppe, die diese Zustände ändern wollte, nachdem die friedliche Forderung nach Gerechtigkeit nichts gebracht hatte. Natürlich hatte Bogle damals keine Chance; die Briten schnappten ihn und verurteilten ihn wegen Hochverrats zum Tode. Es war ein brütend heißer Tag, als Bogle öffentlich gehenkt wurde. Mehrere tausend Soldaten des Empires hielten die einheimische Bevölkerung in Schach, die die Tötung eines Mannes miterlebte, der ihren Kampf gekämpft hatte. Für die Leute war klar, daß der Geist von Paul Bogle niemals sterben würde: der Kampf um die Freiheit, gegen Unterdrückung und für Gerechtigkeit würde weitergehen. „96 degress in the shade / Real hot in the shade / Some may suffer and some may burn / But I know that one day my people will learn / As sure as the sun shines, way up in the sky / Today I stand here a victim the truth is I’ll never die.“

Die Geschichte von Paul Bogle wird erzählt im Titelsong der zweiten Third World-LP: „96 Degrees In The Shade“. Dieser Song sagt sehr viel aus. Für Jamaikaner wie Europäer ist er ein Stück Geschichtsunterricht und ein Stück Sozialkunde. Er zeigt, wo ein versklavtes, dann kolonialisiertes und mittlerweile in eine zweifelhafte Freiheit entlassenes Volk seine von den Unterdrückern bewußt zerstörte Identität wiederfinden kann: im gemeinsamen historischen Aufbegehren gegen die Unterdrücker. Der Song macht auch denen Mut, die heutzutage gegen die deprimierende soziale Wirklichkeit auf der Insel angehen; eine Wirklichkeit, die ja unmittelbare Folge der jahrhundertelangen europäischen Kolonialherrschaft ist. Der Song „96 Degrees In The Shade“ ist zudem ein Stück Unterhaltung, das in Jamaika, hierzulande und überall Spaß macht, dich anregt, dich in eine warme, positive Stimmung versetzt. Reggae ist eine so vielschichtige Musik, daß es zuweilen lange dauert, bis man tatsächlich auf ihren Grund blickt. Und deshalb zeigt dieser Song gerade uns weißhäutigen Europäern und Amerikanern, daß die Reggae / Rock / Jazz / Soul / Disco-Band Third World, die manchmal klingt wie eine Mischung aus Santana und Steely Dan, tief verwurzelt ist in ihrer jamaikanischen Heimat; wir sollten das niemals vergessen, wenn uns ihr Song „Now That We Found Love“ im Laser-Gewitter unserer Discotheken auf Touren bringt.

Neben Bob Marley & den Wailers stellt Third World das größte Phänomen der jamaikanischen Musikszene dar. Die Integrationskraft dieser Band ist ungeheuer. Obwohl sie Musik macht, die dank ihres anglo-amerikanischen Zuschnitts inzwischen alle Hitparaden der westlichen Welt erobert hat, ist sie in Jamaika selbst außerordentlich populär; die Meinung, Third World mache womöglich keine jamaikanische Musik mehr, würde dort niemand teilen. Obwohl der Aufbau der Third World-Musik so außerordentlich komplex und sensibel ist, spricht sie unmittelbar die Motorik des Körpers an, ist sie schlicht und einfach Tanzmusik. Obwohl die Third World-Musiker recht intellektuell wirken und ihre Songs mit jazznahen Improvisationen durchziehen, bersten sie auf der Bühne vor sinnlicher Energie, demonstrieren sie in einem Perkussionsschauer das afrikanische Erbe. Obwohl sie virtuos mit Disco und Funk, Rock und Soul umgehen, kappen sie nie ihre jamaikanischen Wurzeln, spielen sie noch immer Reggae. Obwohl sie selten von Jan und Rastafar-I reden, sind sie doch Botschafter der Rasta-Bewegung, jener mehr politischen und kulturellen denn religiösen Alternativ-Bewegung aus der Karibik, die ihre Landsleute von der sterbenden Coca Cola-Kultur und dem abgewrackten Imperialismus des Westens freimachen will. Der Name Third World ist programmatisch zu verstehen: die dritte Welt wacht auf, und sie setzt unserer aggressiven Kultur zunächst einmal die Idee einer friedvollen Integration entgegen: „My music is so divine / It can make you / Feel a little better now!“ (Third World / „Feel A Little Better“). Es ist unser Problem, diese Botschaft noch rechtzeitig genug aufzunehmen.

„96 Degrees In The Shade“ war die zweite der vier bislang veröffentlichten Third World-LP’s. Sie ist auch immer noch die beste; das komplexe, wagemutige musikalische Konzept der Band wurde hier vollkommen in Szene gesetzt. Die beiden nachfolgenden Alben – „Journey To Addis“ und „The Story’s Been Told“ – enthalten noch weitergehende Expermente mit anglo-amerikanischen Sounds, wirken aber trotz ihrer Brillanz nicht ganz so geschlossen. Das Debutalbum „Third World“ wiederum ist ein direkter Vorläufer von „96 Degrees“, dem nur noch ein Schuß Reife fehlt.

„Third World“ wurde 1976 auf dem Island-Label herausgebracht – ein Jahr, nachdem der damalige Wailers-Gitarrist AI Anderson die Band mit Island-Boß Chris Blackwell zusammengebracht hatte. Blackwell schickte seine Neuerwerbung umgehend auf Tournee: zusammen mit Bob Marley & den Wailers, die in jenem Jahr in England den Durchbruch schafften und den Grundstein legten für den europäischen Reggae-Boom, der erst jetzt seinem Höhepunkt entgegenstrebt. Third World mußten zwei Jahre länger als Marley auf den kommerziellen Erfolg warten, aber sie steuerten zielstrebig und hart arbeitend auf den Wendepunkt ihrer Karriere zu. So siedelte die Gruppe 1976 vorübergehend nach San Francisco über und gab in jenem Jahr annährend hundert Konzerte in den USA, unter anderem auch mit Santana. Auf diese Weise wurde die Bresche geschlagen für den ersten großen weltweiten Single-Erfolg von Third World, „Now That We Found Love“. Als dieser Titel Ende 1978/Anfang 79 in den Hitlisten auftauchte, war der crossover, die enge Verknüpfung von Reggae und anglo-amerikanischer Musik, plötzlich ein allgemein akzeptierter Trend. Ihm angeschlossen hatte sich inzwischen auf höchst virtuose Weise sogar jene jamaikanische Band, von der sich die Third World-Gründungsmitglieder Michael ‚Ibo‘ Cooper (keyb) und Stephen ‚Cat‘ Coore (g, b) wegen schwerwiegender musikalischer Differenzen 1973 getrennt hatten: Inner Circle. Insgesamt fünf der sechs Musiker, die heute Third World bilden, haben früher bei Inner Circle gespielt: neben Ibo und Cat auch Sänger und Gitarrist Bunny ‚Rugs‘ Clarke, Drummer William ‚Willie‘ Stewart und Perkussionist Irvin „Carrot‘ Jarrett. Lediglich Bassist und Gitarrist Richard ‚Richie‘ Daley kommt aus einer anderen Ecke: er gehörte unter anderem zu den Astronauts, die zusammen mit den Slickers den Reggae-Klassiker „Johnny Too Bad“ aus dem Film „The Harder They Come“ einspielten.

Die Third World-Mitglieder sind keine typischen jamaikanischen Gettokinder. Sie haben zum Teil Musikschulen besucht, studiert oder am Theater gearbeitet. Korrumpiert haben sie diese middle c/an-Vergünstigungen aber glücklicherweise nicht. Sie beziehen die aus der Rebellion geborene Rockmusik in ihre kreative Arbeit ein, haben aber sonst – wie der Song „Third World Man“ zeigt – für das Abendland nicht allzu viel übrig: „Telephone ringing outside my door / More news to break up my meditation / Flying machines and time Magazines / And all this 20th Century Situation / No good. no good, no good / For the third world man / From the land of creation.“