Turkish Delight


Zwei Millionen Menschen türkischer Herkunft leben in Deutschland. Hundertausende von ihnen hören Klänge, die wir bestenfalls aus vorbeifahrenden Autos kennen. Auf den Spuren von Istanbuler Rockern und Berliner Türkpop-DJs zogen Edgar Rodtmann (Fotos) und Gero Günther (Text) drei Tage und Nächte durch die wunderbare Welt der Popmüzik.

1. STATION: Metropol Hall, Gotzkowskyitraße, Berlin-Moabit „Der Typ ist ein Bauer“, sagt DJ H-Khan. „ein Bauer!“ Eigentlich ist H-Khan ein sehr ruhiger Mensch, warmherzig und freundlich. Aber Unprofessionalität kann er nun mal nicht leiden. „Geizkragen“, schimpft der Mann im Kunststoff-Jackett, „warum müssen solche Leute immer an den falschen Ecken sparen?“ Am Hotel beispielsweise und, was noch schlimmer ist, an der PA. Haluk Levent, der vielleicht grösste Rockstar der Türkei, soll auf einer mickrigen Partyanlage spielen? Eine Schande! Aber was kann man schon erwarten, wenn der Veranstalter hauptberuflich Hochzeiten ausrichtet?! Ein Bauer eben. In Istanbul würde so etwas jedenfalls nicht passieren.

H-Khan, der eigentlich im Vorprogramm auflegen sollte, beschliesst, seinen Auftritt abzusagen. Gibt stattdessen dem anwesenden türkischen Privatfernsehen ein Interview. „Würdest du für deine Geliebte sterben?“, fragt die blonde Journalistin. „Ich lasse lieber sterben!“, grinst H-Khan und funkelt aus geschminkten Augen eine der Schönheiten an, die er an seiner Seite postiert hat. Medienprofi, klare Sache. Kein Bauer jedenfalls. H-Khan erzählt uns die Geschichte seines Lebens: geboren in Deutschland, Mutter und Vater berufstätig, der Ärger, als die deutschen Pflegeeltern mit ihm in die Kirche gingen, Internat in der Türkei. Mit 13 die Offenbarung: „Rapper’s Delight“. Später, zurück in Deutschland, erste Auftritte als Scratcher vor dem Mövenpick auf dem Kudamm. Heute ist H-Khan eine Institution, Vollprofi. Seine Spezialitäten: Weltmusik, türkischer Pop mit House-Beats. Es ist 21 Uhr, H-Khan macht sich aus dem Staub. Er heute Nacht noch einen Job, muss auf einer Schwulenparty in Hamburg auflegen. Währenddessen füllt sich die Halle. Man trifft sich, man plaudert, alle sind da. Unter den weit über tausend Menschen ein, zwei Kopftücher, wenig Oberlippenbärte. Stattdessen modebewusste Jungs und hübsche Mädchen, massenweise hübsche Mädchen. Eine peinliche Deutsche in original anatolischer Tracht wird geflissentlich übersehen. Anatolische Tracht! Wo die Teenager hier doch hautenge Tops und Handy-Headsets vor ihren Zahnspangen tragen.

Als Haluk Levent auf die Bühne stürmt, wird uns schlagartig klar, was Sache ist. Gitarrenriffs? Nicht so wichtig. Bassläufe? Na ja. Schlagzeugsolo? Nada. Was hier gefragt ist, sind Leidenschaft und Temperament. Jede Menge Hymnen. Erhobene Arme, schmachtende Blicke, Feuerzeuge. „Haluk ist einer von uns“, sagt der Junge neben mir, „ein Masse Typ.“ Der Sänger habe auch schon im Knast gesessen, werde ich aufgeklärt – wegen irgendeiner Steuersache. „Sogar die Bauern mögen ihn.“ Die Stimmung ist gigantisch: Kollektives Mitsingen. Bei jedem zweiten Lied schreit unser Nachbar: „Ein Riesenhit! Den kennt einfach jeder. Ein Klassiker! Eine Hymne!“ Haluk hat die Leute im Griff, vor allem die Frauen. Holt sich ein pummeliges Mädchen auf die Bühne, tanzt durch die Menge, hört überhaupt nicht auf zu singen. Auch nicht nach drei Stunden. Noch mehr Hymnen. Wir gehen.

2. STATION: Restaurant Lalla, Bismarckstraße, Wilmersdorf

Zur Eröffnung werden nur geladene Gäste hereingelassen. AJle Tische sind besetzt. Wir stehen an der Bar neben den drei Brüdern, denen der Laden gehört. H-Khan stellt uns Männer in dunklen Anzügen vor, Honoratioren, Geschäftsleute, Mafiosi. Die pseudobabylonischen Reliefbrocken an den Wänden, werden wir aufgeklärt, haben 100.000 Mark gekostet, der kroatische Künstler, der die Decken bemalt hat, bekam 30.000. Gelangweilte Mädchen kramen in ihren Handtaschen. Auch hier keine Kopftücher, dafür modische Mütter und alkoholische Drinks. „Arabesk“ heißt die Musik, die auf der Bühne fabriziert wird. Arabesk ist die türkische Variante arabischer Tanzmusik, Pop mit orientalischen Schnörkeln. Ein Sänger im cremefarbenen Anzug, ein Zitherspieler, das obligatorische Keyboard. „Grauenhaft“, stöhnt ein Junge im Rollkragenpulli.

3. STATION: 94,8 Metropol FM; Potsdamer Straße, Tiergarten

Dass Tarkan schwul sein soll, wissen alle. Dilek weiß es, Alpay weiß es und Herr Ergü weiß es auch. Na und – Tarkan ist trotzdem der Größte! Was der 29jährige Superstar macht, ist Gesetz. Seit der international bekannte Sänger lange Haare und offene Hemden trägt, zeigen immer mehr junge Istanbuler Männer ihr Brusthaar.

Auch in den Räumen von FM Metropol regiert der Sunnyboy vom Bosporus: Tarkan-Poster, -Kalender, -Autogrammkarten lassen keine Zweifel an seinem Rang und, „ach übrigens, Tarkan war vor gar nicht allzu langer Zeit bei uns im Studio“. Metropol FM, der einzige türkischsprachige Radiosender Deutschlands, ist ein Erfolgsunternehmen. Woran das liegt, erfahren wir von Tamer Ergü, dem Marketingexperten des Senders. „Hohe Kundenbindung“, „Kollektiwerhalten“, „ausgeprägtes Konsumverhalten“ und „Markenartikelbewusstsein“ sind die Stichworte. Dass sich Ethnomarketing angesichts von 170.000 Berlinern mit Türkischkenntnissen lohnt, liegt eigentlich auf der Hand. Neben Pop, Arabesk und kleinen Anteilen klassischer Musik (Sanat) und Folklore (Halk) setzt sich das Programm aus Nachrichten und Comedy zusammen. Besonders Familie Kuskonmaz (zu deutsch: die Spargels) erfreut sich bei den 120.000 täglichen Hörern allergrößter Beliebtheit.

Von der eminenten Bedeutung der Musik für die türkische Kultur spricht Ergü, von der Outing-Welle, die Tarkan im türkischen Entertainment losgetreten hat und von den Tabus, die trotz Liberalismus und Laizismus die türkische Kultur umgeben. „Wenn eine Familie zusammen fernsieht und sich auf dem Bildschirm welche küssen, wird sofort gezappt.“ Gerade wegen der vergleichsweise konservativen Moralvorstellungen, vermutet der kosmopolite Mittdreißiger, könne türkische Musik so erfolgreich die Sehnsüchte ihrer Zuhörer projizieren.

„Ein amerikanischer Song auf türkisch würde nicht funktionieren“, sagt Tamer Ergü, „bestimmte Elemente dürfen nicht fehlen, sonst wird der Track nicht angenommen.“ Türkischer Pop muss sofort als türkischer Pop erkennbar sein. Das gilt für Tarkan genauso wie für Newcomer Faruk K. oder die hochverehrte Königin des Genres, Sezen Aksu.

Klar, dass Deutsche türkischer Herkunft nicht den gleichen Geschmack wie die Hipsters in Istanbul haben, klar auch, dass sie nicht nur türkische Musik hören. „Ich habe zur Zeit eine totale Schwäche für Latin-Pop“, sagt Dilek Gündogdu. Wie viele ihrer Freunde mag die ehemalige Miss Berlin temperamentvolle Dance-Tracks – Jennifer Lopez, Ricky Martin oder Enrique Iglesias beispielsweise. In ihrer Sendung legt die 25-Iährige trotzdem nur türkische Musik auf. „Die Leute hören uns wegen der türkischen Songs, die anderen Sachen bekommen sie überall.“

4. STATION: Aydin Video, CD & Musikkassetten; Kottbuser Tor, Kreuzberg

Was in Osman Uzuntos‘ Laden aufgelegt wird, hört der ganze Orient-Bazar. Die Männer beim Barbier, die Frauen im Gemüseladen und der Dicke, der bei den dampfenden Teekannen hockt, sowieso. Gerade müssen die Menschen in der Einkaufspassage eine Kassette über sich ergehen lassen, die wir ausgewählt haben. Scheint eine An Dichterlesung zu sein, dabei sah der Typ auf dem Cover wie ein schneidiger Barsänger aus. Herr Uzuntos kann uns das auch nicht so genau erklären, der Mann hinter dem Tresen spricht nämlich kaum Deutsch. So viel steht fest, die neue Tarkan ist auch hier der absolute Renner. Wir studieren die Hüllen der Tapes und CDs mit exotisch klingenden Namen: Nilüfer, Rafet El Roman, Nazan Öncel, Özlem Telin, Sebnen Ferah, Izel… Der ganze Bazar wird Zeuge unseres Schnellkursus in Sachen türkischer Pop.

5. STATION: Ballroom; Naunynstrafte, Kreuzberg

Der Rocker ist müde. Er hat alles gegeben. Drei Stunden lang alleine auf der Bühne. Nur er, die Gitarre und der Korg-Synthesizer, jetzt sitzt der älteste türkische Rock’n’Roller in der Garderobe eines Kreuzberger Theaters und schwitzt. „Ich habe nicht mehr viel Zeit“, seufzt der Mann mit der Clownsfrisur und dem sternenübersäten Hemd. Gerade sah das noch ganz anders aus: auf der Bühne keine Spur von Erschöpfung.

1957 trat Erkin Koray, Absolvent der deutschen Oberrealschule in Istanbul, zum ersten Mal auf. Damals spielte er Songs von Chuck Berry und Fats Domino. Auch das heulige Konzert hat der Vater des Türkrock mit „Blueberry Hill“ eingeläutet. Danach war er zu Traditionais, Protestliedern und ohrenbetäubendem Monster-Rock übergegangen. Das Publikum – Künstler, Lehrer, Bohemiens und Aktivisten aller Art – dankte es ihm mit geradezu frenetischem Applaus.

Während „Papa Erkin“ sich erholt, geht die Party im stuckverzierten Saal weiter. DJ H-Khan ist da, die schöne Ezru und die Moderatoren von Metropol FM auch. Und der Mann im dunklen Anzug? Den hat man doch auch schon mal irgendwo gesehen … ist das nicht? Genau! „Guten Abend, Herr Özdemir.“ Cem Özdemir, 36, anatolischer Schwabe, Bundestagsabgeordneter der Grünen, Experte für Innen- und Integrationspolitik, gern gesehener Talkshow-Gast und Medienliebling. Wir haben Glück, Herr Özdemir entpuppt sich als waschechter Türkpop-Aficionado. Immerhin versucht sich der Politiker derzeit als Gelegenheits-DJ bei Radio Multikulti. Einmal die Woche vertritt der Grüne die Moderatorin Aziza M in ihrer Sendung „Haydi Hop“. Humor hat er jedenfalls genug für den lob – und ein erstaunliches Mundwerk. Was er mag? Tarkan natürlich, Sezen Aksu sowieso, aber auch die mystisch-politischen Folk-Songs der alewitischen Bevölkerungsgruppe. Um halb zwei Uhr morgens beschliesst Cem Özdemir, dass es Zeit ist, eine Suppe zu essen. Wir verlassen den Ballroom mit einem Abgeordneten der grünen Bundestagsfraktion.

6. STATION: „Cardak – Cafe, Bistro, Bar“; Eisenacher Straße, Schöneberg

Am Nachbartisch – endlich! – ein Mädchen mit lindgrünem Kopfluch. Ihr Mund ist stark geschminkt. Daneben ein schnurrbartloser Mann mit Baseballmütze. Es ist dunkel, gemütlich. Unsere kleine Runde sitzt unbeschuht auf weichen Polstern und löffelt Suppe aus ausgehölten Brotlaiben. Danach heisse Milch mit Zimt. Auf der kleinen Bühne ein Sänger mit seiner Saz, der türkischen Laute. Die Lieder klingen traurig, sie gehen durch Mark und Bein. Der kurdische Exilpolitiker singt, die interkulturelle Therapeutin singt, der Mann im Anorak singt, nur der Abgeordnete summt bloß. Als wenig später die junge Berliner Sängerin Beyhan Yahsi zum Mikro greift, flüstert uns Özdemir die Übersetzung der Texte ins Ohr. Ein Lied handelt von einem Dichter im Kerker. Seine Zelle liegt in einer Festung am Meer. Das Geräusch der Wellen, die gegen die Gefängnismauern schlagen. Es geht um Schmerz, Hoffnung und Freiheit. Es ist 3:40 Uhr morgens. Wir verabschieden uns.

7. STATION: Disco Metro; Warschauer Straße, Friedrichshain 4 Uhr.

„Kommt rein. Wir haben euch schon erwartet. Ich bin Ali und das ist Ahmed.“ Im Hinterzimmer Überwachungsmonitore, ein Schreibtisch. Der Chef, rosa Hemd, nach hinten gekämmte graue Haare, zählt Geld. Bündelweise. Ali rasselt die Informationen herunter: Geöffnet freitags und samstags. Kapazität: 900 bis 1000. Eintrittspreis: 15 bis 20 Mark. Publikum: überwiegend türkisch. 13 Mann Security. Empfindliche Metalldetektoren. „Und jetzt viel Spass! Mit den Mädels wisst ihr ja Bescheid.“ Zwinker, zwinker. Auf der Tanzfläche junge Frauen in engen Kleidern, Tarnfarben-Tops, Leopardenröcke. Männer, denen man den frisch gewachsten Wagen ansieht. 150 PS. Ein paar HipHopper, ansonsten Anzüge, Hemden, T-Shirts ohne Aufdruck. Altai, der laut Ali „beste türkische DJ weltweit!“, legt Babyface auf. Dann Nelly Furtado, Michael Jackson, Kelis. Besonderheit: Mitsingen aus vollem Hals, am besten Auge in Auge mit einem Freund oder einer Freundin. Ein weißhaariger Fotograf hält Ausschau nach jungen Paaren und notorischen Angebern, denen er seine Polaroids andrehen kann. Dicht auf seinen Fersen der lunge mit den langstieligen BaccaraRosen. Zwei Teenager versuchen einen dicklichen Herren mit einer Lesbennummer aus der Fassung zu bringen. Wie sagte Ali noch gleich? „Der Ramadan stört uns nicht.“

Dann endlich wieder Türkpop. Sofort ändert sich der Tanzstil, Arme weit nach außen, Hüfte locker machen, Kopf leicht nach hinten. Nächste Woche gehen wir zum Gemüsehändler und holen uns die neue Tarkan.

ZUM WEITERLESEN: Feridun Zaimoglu, „Kopf und Kragen: Kanak-Kultur-Kompendium“, Fischer Taschenbuch Verlag, 12 Euro Uli