Victoria Williams


Eine schwere Krankheit kann die Kreativität der Künstlerin nicht lähmen. Erneut brilliert sie mit einzigartigen Songs

Als sich 1992 ein paar von ihren Kollegen zusammentaten, um für einen Sampler einige ihrer Songs neu aufzunehmen, umfaßten die eigenen Veröffentlichungen von Victoria Williams ganze zwei Alben. Zudem stand sie ohne einen neuen Plattenvertrag da. Doch zu den Freunden, die damals einige ihrer Lieder in neuen Versionen aufnahmen, zählten immerhin Musiker wie Pearl Jam, Evan Dando, Soul Asylum und Lou Reed. Der Sampler ‚Sweet Relief wurde zum Überraschungserfolg. Und siehe da: Heute meldet Victoria Williams sich mit einem eigenen Album zurück. Doch bis es dazu kam, mußte sie einen weiten Weg zurücklegen, der über die Jahre immer wieder von herben Tiefschlägen gekennzeichnet war.

Victorias erste LP hieß ‚Happy Come Home‘, erschien 1987 und schöpfte auf eindrucksvolle Weise aus dem großen Fundus der amerikanischen Musiktradition. Die Williams überraschte ihre Zuhörer mit Blues und Gospel, mit Skiffle und Jazz, mit Klängen, die an Hank Williams und Joni Mitchell erinnerten, und sogar mit Tönen, wie man sie von Soundtracks aus Hollywood kennt. Darüber hinaus wartete Williams mit psychedelischen Streicherarrangements von Altmeister Van Dyke Parks auf, der seinerzeit dabei war, als die Beach Boys einige ihrer besten Momente hatten. Zusammen mit Victorias eigenwilliger Stimme mal verführerisch gurrend, mal kleinmädchenhaft zickig, dann wieder so hinreißend süß wie Honig – ergaben die einzelnen Komponenten eine Platte, wie sie das Songwriter-Genre bis dahin noch nicht hervorgebracht hatte. Mit Mary Margaret O’Hara, Jane Siberry und den Roches half Victoria Williams, einen Pfad zu ebnen, auf dem später Tori Arnos, Liz Phair, Heather Nova oder auch Melissa Ferrick geradewegs in den Erfolg marschieren sollten. Nur: Victoria blieb die Anerkennung der eigenen kreativen Leistung versagt. ‚Happy Come Home‘ blieb in den Regalen liegen. „Ein Album“, sagt sie rückblickend und halb im Scherz, „das die Plattenfirma wohl gar nicht so richtig verkaufen wollte.“ Doch damit nicht genug.

Zu den künstlerischen gesellten sich auch noch private Probleme. Victorias Ehe mit dem Musiker Peter Case ging in die Brüche: „Ich hatte Schuldgefühle, weil ich so viel Zeit und Energie in die Musik gesteckt hatte.“ Hinzu kam, daß auch die zweite LP der Amerikanerin, ‚Swing The Statue‘ aus dem Jahr 1990, kaum Käufer fand. Schon damals litt Victoria Williams unter „unerklärlichen Gelenkschmerzen“. Im Frühjahr 1992 dann die erschreckende Diagnose: Multiple Sklerose. Erst jetzt zeigt sich, wie sehr ihre Musik unter Kollegen geschätzt war. Benefizkonzerte und der von prominenten Künstlern aufgenommene Sampler ‚Sweet Relief trugen dazu bei, Victoria Williams‘ horrende Krankenhauskosten zu decken. Inzwischen geht es ihr besser, wenn auch längst nicht gut. Ein Europabesuch mußte kurzfristig abgesagt werden. Dennoch: Mit ihrer Musik ist Victoria Williams präsenter denn je. ‚Loose‘, ihr gerade erschienenes drittes Album, schöpft in ähnlicher Weise aus dem vollen wie schon ihre erste LP anno ^87. Als Gäste sind Dave Pirner von Soul Asylum, Peter Bück und Mike Mills von R.E.M. sowie Victorias zweiter Ehemann, Mark Olsen von den Jayhawks, zu hören. Ihre Krankheit, meint die Songschreiberin, habe auf ihre Musik keinerlei Einfluß. „Das zu vermuten“, sagt sie, „wäre so, als würde man einen Schriftsteller fragen, ob ihn die Warze auf seiner Nase bei der Arbeit beeinträchtigt.“