Waldmeister


Seine Farm, hoch in den kalifornischen Bergen, ist seine Festung, wenn überhaupt, verläßt er sie nur, um sich auf Tour wieder mal das Brett zu geben. Oder aber, weil er sich widerwillig zu einem Interview breitschlagen ließ. ME/Sounds-Mitarbeiter Peter Jebsen traf Young im Unterholz

Die gequälten Gitarren kreischen. Der mächtige Baß wummert. Das Schlagzeug knallt in die Eingeweide. Die Verstärker rauchen. Schräge Gesänge, verzerrte Soli, gellende Rückkopplungen, grelle Lichter — Inferno! Neil Young und Crazy Horse sind in der Stadt, um ihre Klassiker dahinzumetzeln. Nachzuhören in feinster Laserqualität im zweistündigen CD-Set WELD.

Ein halbes Jahr später. Durch eine hügelige Waldgegend südwestlich von San Francisco weht ein lauer Herbstwind. In einer Schneise steht ein Holzhaus, in dem sich das gemütliche Mountain-House-Restaurant befindet. Barbecue-Duft zieht aus dem Schornstein. Mit einer Dreiviertelstunde Verspätung rollt Youngs dunkelgrüner Uralt-Plymouth auf den Parkplatz.

Young trägt Kopfhörer, mit denen er sich zur Zeit einer ständigen Geräuschberieselung aussetzt. Kein Rock ’n‘ Roll — Gott bewahre! „Ein Freund hat mir vor ein paar Monaten von diesen Bändern mit klassischer Musik erzählt, die unter anderem zur Therapie von Leseschwäche von Kindern verwendet werden.“ Young, selbst Vater eines behinderten Kindes, beschäftigt sich seit Jahren mit dieser Problematik; seine Frau leitet eine Schule für behinderte Kinder.

Jedenfalls hat mich das Thema interessiert — die Musik soll dich in den gleichen Ruhezustand zurückversetzen, in dem sich ein Baby in der Gebärmutter befindet. Ob es wirkt? Weiß ich noch nicht — man muß diesen Sounds mindestens 100 Stunden lang ausgesetzt sein. „

In welchen Zustand versetzt es Young, wenn er den Urgewalten seiner WELD-CDs per Kopfhörer lauscht?

„Ich habe mir sie nie auf diese Art angehört, und ich höre mir generell meine Platten nur ungern an. Ich kenne sie schließlich schon! Das Kreieren von Musik ist interessanter als das Reproduzieren — die Zeit, die du zum Hören verwendest, könntest du genauso gut zum Spielen nutzen. „

Daß WELD eine dermaßen rabiate Attacke werden sollte, hatte selbst Young vor der Frühjahrs-Tournee ¿

mit Crazy Horse nicht geplant. Doch als man sich kurz vor Tour-Beginn für ein paar Durchlaufproben in Princes Paisley-Park in Minneapolis traf, begann gerade der Golfkrieg. Ein Teil des Programmes mußte daraufhin umgeworfen werden, neue Songs wurden in letzter Minute hinzugefügt. Darunter eine beklemmende Version von Dylans „Blowin‘ In The Wind“, die mit Sirenengeheul, Helikoptergeräuschen und Maschinengewehr-Salven beginnt. Seine Begründung, warum er gerade dieses Stuck ausgewählt habe, ist knapp:

„Es paßte einfach zur Zeit. .Blowin‘ In The Wind‘ ist ein Kriegssong, und es war gerade Krieg. Ich konnte es in den Gesichtern der Leute im Publikum sehen, deren Brüder und Schwestern am Golf waren. Manche hatten Flaggen in der Hand: .Support Our Troops!‘, anderen standen plötzlich mitten in einem Song Tränen in den Augen — was normalerweise nicht passiert. Es war eine emoäonelle Zeit.“

Auf der CD ARC, die es sowohl separat von WELD und als auch im limitierten Dreier-Set ARC-WELD gibt, geht Young noch einen Schritt weiter als auf WELD, um die Emotionalität der Kriegsmonate akustisch umzusetzen. ARC ist die extremste Platte, die Young, inzwischen 46 Jahre alt, je ausgeheckt hat — was bei all den umstrittenen LPs, die er während seiner 25jährigen Karriere veröffentlicht hat, eine Menge bedeutet: Der notorische Querkopf hat von den Konzerten, die auf WELD nicht berücksichtigt wurden, 35 Minuten Lärm (seine eigene Interpretation!) zusammengeschnitten. Eine Collage aus Rückkopplungen, Gesangsfetzen, Schlagzeugsoli und Publikumstrubel, die Young selbst „ab Hintergrundmusik fiir Rock ’n‘ Roll“ ansieht, „eine Art — wie nennt man das doch gleich ? — New Age Metall Man kann so etwas zum Beispiel in einem Club zwischen den Auftritten von zwei Bands spielen. „

Nachdem er sich bei der Zusammenstellung des ARC-Patchworks am Schneidetisch austoben konnte, beschränkte Young die Zahl der Schnitte bei der Zusammenstellung der beiden WELD-CDs auf ein Minimum. Auch an seinem Lead-Gesang, bei dem im Eifer des Gefechts manchmal die Stimme wegbricht, wurde nachträglich nichts geschönt. „Nur bei den Refrains haben wir ein paar Overdubs aufgenommen, um zu versuchen, die Platte fürs Ohr gefälliger zu machen,“ sagt Young mit sarkastischem Grinsen.

„Die Konzerte waren unglaublich laut, und von unserem Gesang kriegten wir wenig mit. Deswegen sind wir später im Studio gegangen, um die Gesangsspuren so zu bearbeiten, daß nicht ständig das Schlagzeug reinkracht!“

Young bemüht noch einmal die Kriegs-Analogie, als er mit blumigen Worten seine Philosophie in Sachen Refrain erläutert: „Ein Chorus ist wie ein Meilenstein auf einem Highway. Bei uns war der Highway übersät mit Körpern, Maschinen, Rauch, lärmenden Hubschraubern; und ab und zu tauchte mal ein Meilenstein auf, der für ein bißchen Klarheil sorgte. Ein Song hat

durchschnittlich zwei bis drei Refrains; wenn sie einem schließlich begegnen, weiß man, wie weit man sich auf der Straße fortbewegt hat.“

Auf dem WELD-Video, das es als Ergänzung zum ausgeklinkten ARC-Video natürlich auch noch gibt, klingt wiederum alles ganz anders, weil andere Konzertmitschnitte benutzt wurden.

„Wir haben den Gesang hier viel stärker live belassen, weil ich das Video als Dokumentation eines Ereignisses sehe. Ich will es irgendwann mal meinen Enkeln wtführen. um ihnen zu zeigen, was wir damals gemacht haben. Aber vermutlich werden sie nur sagen: .Grandpa, spiel uns bloß nicht wieder das grauenhafte Video vor — oh no, not again!'“

Die heimlichen Stars der Videos sind die — wirklich funktionstüchtigen! — überlebensgroßen Fender-Gitarrenverstärker. die an beiden Seiten der Bühne stehen; Young und Crazy Horse sehen neben ihnen wie Zwerge aus. Auf die Frage nach dem Grund, warum die schon im „Rust Never Sleeps“-Film gefeatureten Ungetüme wieder auftauchen, gibt der Meister eine typische Antwort: „Ich mag sie einfach!“ Punkt. Weitere Begründung unnötig. Dann hat Young aber doch Verständnis für die journalistische Neugier. „Ich habe schon als Kind von solchen Verstärkern geträumt. Hey, und jetzt habe ich die größten der Welt! Warum sollte ich sie nicht wieder benutzen, wenn ich die Dinger schon habe?“

Ende der 70er Jahre wurden die gigantomanischen Verstärker von manchen Journalisten als technologiekritisches Statement interpretiert. Die Erwähnung dieser Deutung erwischt den zivilisationsmüden Einsiedler Young an einem wunden Punkt: Die folgenden fünf Minuten verbringt er mit einer Tirade gegen das schlimmste Übel, das die Musikszene im vergangenen Jahrzehnt seiner Meinung nach heimgesucht hat: die CD-Technologie.

Jnpuncto Technologie befinden wir uns heute im frühen Mittelalter. Die 80er und 90er Jahre werden uns in der Musikgeschichte als das Zeitalter in Erinnerung bleiben, in dem die Konservierung von Sound am allerschlechtesten geklungen hat! Verglichen mit echter Musik klingen CDs furchtbar. Sie ind nur gut genug, um deinem Ohr vorzutäuschen, du würdest Musik hören. Die gesamte Musik, die seit Beginn der Digital-Technologie aufgenommen wurde, hat darunter gelitten.“

Bedeutet die krasse Anti-CD-Message, daß sieh Young bei der Neuverhandlung seines Plattenvertrages die Veröffentlichung auf CD verbitten wird? „Nein, bedeutet es nicht!“ Er schmunzelt. „Ich allein kann nichts dagegen tun; ich muß nun mal mit den technischen Möglichkeiten arbeiten, die mir zur Verfügung stehen. „

Und so gibt es ARC/WELD ausschließlich auf CD, und auch Youngs seit langem angekündigte akustische Biografie – Arbeitstitel: ARCH1YES — wird wohl nur in digitaler Form angeboten werden. Die Retrospektive war schon fürs Jahr ’90 angekündigt, Weihnachten ’92 soll es endlich soweit sein. Zu diesem Termin will Young die ersten vier ARCHIVES-CDs — mit einem hohen Anteil unveröffentlichten Materials – und ein Begleit-Video fertig haben, „und von da ab soll es etwa vier Jahre lang jährlich eine weitere Ausgabe geben.“

Warum die Verzögerung? „£5 gibt keine Verzögerung, ich liege voll und ganz im Zeitplan! Als Verzögerung wirkt es nur in der Erwartungshalnmg der Leute, die fälschlicherweise annahmen, daß ich früher fertig sein würde. Für mich ist es ein Dokument, das ich korrekt abliefern will. Meine Firma hatte ihre eigenen Pläne — mich aber hatte sie nicht gefragt. “ Und das kann bei einem sturen Bock wie Young eigentlich nur ins Auge gehen …