Warum Patrick Hernandez mehr als „Born To Be Alive“ ist
Jan Müller findet: Es gibt kaum etwas Schöneres als einen Patrick-Hernandez-Auftritt.

Meist spülen uns die Algorithmen nur das Offensichtliche oder irgendeinen Müll auf unsere Endgeräte. Aber manchmal passiert mit ihrer Hilfe dann doch etwas Außergewöhnliches. Vor ein paar Tagen wurde mir ein Auftritt von Patrick Hernandez im italienischen Fernsehen angeboten. Gezeigt wurde der Ausschnitt aus einer Show für den Sender in der Arena von Verona, ein römisches Amphitheater, in dem 20 000 Zuschauer Platz finden. An diesem 1. Oktober 2022 ist sie randvoll gefüllt mit bestens gelauntem Publikum.
Und ich dachte nach ein paar Sekunden: Wie konnte ich eigentlich jemals Patrick Hernandez und seinen einzigen Hit „Born To Be Alive“ vergessen? Ich habe diesen energetischen Disco-Song vom ersten Augenblick an geliebt, und erinnere mich wieder genau, wie ich ihn in der Sendung „Disco“ mit Ilja Richter zum ersten Mal hörte und sah: Den englischen Text konnte ich damals noch nicht verstehen.
Aber das überbetonte „born“ mit dem gedehnten „o“ faszinierte mich genauso wie der stampfende Beat, die Streicher, die Bläser, der Frauenchor, die Claps, die Piano-Akzente und der flashige Gitarrenakkord bei Minute 2:31 und 2:53. Patrick Hernandez (im weißen Anzug) strahlte eine gespenstische Lässigkeit aus. Und eine subversive Aggression schwang in seiner Performance auch mit. Vielleicht hat dies auch mit dem Spazierstock zu tun. Er ist Hernandez’ Markenzeichen, ohne den er keinen Auftritt absolviert.
Vielleicht ist „Born To Be Alive“ der letzte fast schon verzweifelte Aufschrei der Disco-Ära und ihrer hedonistischen Utopie
Ich verstand erst viel später die Relation zu „A Clockwork Orange“. Auch Alex und seine Droogs sind mit Spazierstöcken bewaffnet. Ich würde Hernandez diese Metaebene aus heutiger Sicht zutrauen. Immerhin wurde der Spazierstock bereits seit dem 19. Jahrhundert nicht nur als Statussymbol, sondern auch als Waffe zur Selbstverteidigung aufgefasst. Wir wurden geboren, um lebendig zu sein“. Vielleicht ist „Born To Be Alive“ der letzte fast schon verzweifelte Aufschrei der Disco-Ära und ihrer hedonistischen Utopie.
„People asked me why I never / Find a place to stop and settle / Down, down, down / But I never wanted all those things / People need to justif their lives, lives, lives“. Patrick Hernandez wurde 1949 als Sohn eines Spaniers und einer Italienerin in Frankreich geboren. Er spielte in den 60er- und 70er-Jahren in einer Rockband und war Studiomusiker. „Born To Be Alive“ schrieb er bereits 1973 als Rocksong, bevor er ihn 1978 in seiner jetzigen Form veröffentlichte. Der Song wurde ein Welterfolg und ist es bis heute. Hernandez schaffte nie eine Anschluss-Hit. Aber dennoch scheint mir, dass Hernandez nicht zu den tragischen One-Hit-Wonder-Künstlern zählt.
Hernandez ist mit sich selbst im Einklang
Und damit komme ich zurück zum Anfang, zu dem Auftritt in dem riesigen Amphitheater in Verona: Hernandez trägt eine seltsame Mischung aus Trainingsjacke und Jackett mit der Aufschrift „Team Crusades“; dazu einen orangenen Schal, eine Jeans in einem anderem Orangeton, ein schwarzes T-Shirt, Kette, Sonnenbrille und graue Slipper. In der einen Hand trägt er ein Mikrofon, in der anderen, wie immer bei Auftritten, einen Spazierstock. Bei der Vollplayback-Performance passiert etwas, das sonst selten passiert; es hat nichts Trauriges an sich, wie der gealterte Star zu seiner jungen Stimme die Lippen und seinen Körper bewegt.
Hernandez ist mit sich selbst im Einklang und die positive Lebendigkeit überträgt sich vom ersten Moment an auf das Publikum. Ich habe selten etwas Schöneres gesehen. Im Nachgang schaute ich mir noch andere Hernandez-Live-Auftritte an. Sie sind allesamt fantastisch. Und selbstverständlich führt er stets denselben Song auf. 2008: Hernandez ist mit weißer Krawatte und Schieberkappe ausgestattet. Er singt „Born To Be Alive“ im Duett mit Lorie Pester. 2021: Diesmal erleben wir Livegesang. Hernandez tritt im schwarzen Rock und mit Melone bekleidet auf. Vielleicht ist der Spazierstock doch eher ein Charlie-Chaplin-Zitat?
2023: Hernandez spielt „Born To Be Alive“ bei einer gigantischen Silvesterfeier Open Air in Paris. Er trägt wieder eine Melone, aber eine Hose statt des Rocks. 2024: Patrick Hernandez ist mit einem Pop-Art-Umhang bekleidet. Die Liste ließ sich lange fortsetzen. Am besten, ihr klickt euch selbst durch. Zu eurer eigenen Freude. In einem Interview aus dem Jahr 2012 behauptet Hernandez, dass ihm der Song „Born To Be Alive“ Tantiemen von etwa 800 € pro Tag beschere. Er lebt in einem Haus in L’Isle-sur-la-Sorgue in Frankreich. Selbstverständlich mit integriertem Tonstudio und Swimmingpool. Es sei ihm gegönnt. Patrick Hernandez ist 75 Jahre alt. Ich wünsche ihm ein langes Leben!
Diese Kolumne erschien zuerst in der Musikexpress-Ausgabe 5/2025.