Wie klingt Skandinavien?


Zuerst einmal nach mehr. Viel mehr. Berücksichtigt man die Gesamteinwohnerzahl von gerade ein- mal 19 Millionen Menschen, ist die stilistische Vielfalt von Rock und Pop sowie die nackte Anzahl an Bands und Solokünstlern aus dem Norden mehr als eindrucksvoll - und die Qualität der Popmusik Skandinaviens ist es erst recht. Eine Stil-Übersicht (ohne Anspruch auf Vollständigkeit).

Je weiter nördlich man sich in Skandinavien bewegt, desto seltsamer ist diese Sache mit den Tages- und Nachtzeiten. Manchmal wird es gar nicht dunkel, dann wieder überhaupt nicht hell. Wer, wie wir Mittendrin-Euiopäer, schon mit dem herkömmlichen Biorhythmus genug zu kämpfen hat, den kann diese Laune der Natur ganz schön verwirren. Skandinaviens Bewohner (zumindest diejenigen, die nicht der hohen Jugendsuizidrate zum Opfer fallen) scheinen sich jedoch entweder prima abzulenken oder den Himmelsgezeiten einfach zu trotzen, indem sie ihr lautstark Musik entgegensetzen.

Während man hierzulande als Musiker erst einmal damit beschäftigt ist, sich von allerlei innerdeutschen Feindbildern aus Vergangenheit (Schlager, Deutschrock, NDW) und Gegenwart („Deutschland sucht den Superstar“, Wir-sind-Helden-Klone etc.) abzugrenzen, wird im hohen Norden einfach drauflos gespielt. Und wenn dann plötzlich die Jugend auf der halben Welt mit zu engen Jeansjacken und Goldregen im Hintern rumläuft, weil Turbonegro irgendwie einen Nerv getroffen haben, dann freut man sich. Vielleicht wundert man sich auch ein bißchen. Aber keinesfalls entschuldigt man sich.

Es ist bezeichnend, wie viele Musikrichtungen parallel auf denselben Festivals und in den bereits erwähnten Verkaufsregalen der Schallplattenläden existieren und sich dabei auch immer wieder gerne freundlich die Hände reichen. Zwischen den unterschiedlichen Stilen und Szenen kommt es immer wieder zu regem Austausch und lustigen (und freilich auch ab und an weniger lustigen) Kollaborationen. Umso schwieriger ist es, einzelne Acts auf einzelne Stilrichtungen festzulegen. Deshalb soll und kann der folgende Überblick kein komplettes Bild zeichnen; vielmehr geht es um eine exemplarische Übersicht, von der aus sich jeder, der mag, in den Tiefen der skandinavischen Musikszene verlieren und verirren kann.

Rock. Natürlich ist dies ein breites Feld, hier geht auch in anderen Ländern so einiges, dennoch ist die Vielfalt der Rockmusik in Schweden (im Folgenden gekennzeichnet mit [se], Norwegen [no] und Dänemark [dk]) berücksichtigt man, wie klein bzw. einwohnerarm diese Länder sind atemberaubend. The Soundtrack Of Our Lives [se], Kristofer Äströms Rock-Hardcore-Konglomerat Fireside [se], Ricochets (aus Norwegen in guter, alter Rock’n’Roller-Tradition, zuweilen fast peinlich nahe an der Grenze zu den Hymnen eines Meat Loaf) und Konsorten produzieren den Sound, zu dem gestandene Männer weinen und Frauen in erstaunlicher Menge Dosenbier trinken. Manchmal führt uns das Rockertum des Nordens aber auch in ausgesprochen abseitige Winkel, wo, wie im Fall von Turbonegro [no], ganze Jugendbewegungen mit seltsamen Vorlieben aus dem Boden schießen. DerTurbonegro-Abspaker Euroboys paart Rock und Surfund explizite Texte, während die ehemalsbrillant düster-staubigen Madrugada [no] nach jahrelangem Bestehen inzwischen eher zu schnarchnasigem Stadionrock tendieren. Die unberechenbaren und gleichermaßen genialen Motorpsycho [no] sind selbst im so vielseitigen wie hochklassigen Rock-Skandinavien eine große Klasse für sich, die sich aufgrund ihrer Experimentierfreude auch nur schlecht fassen läßt. Währenddessen schießen auch in Dänemark die Rockkapellen wie Pilze aus dem sandigen Boden: Kashmir halten es als Rockpopkapelle mit verhalten psychedelischen Einflüssen klassisch schlicht, um nächstens vielleicht Starsailor zu beerben, Düreforsög eifern ihrem offensichtlichen Idol Jon Spencer nach, Thau rocken cool zur akustischen Rhythmusgitarre, und The Tremolo Beer Gut mischen einmal Rock- mit Surfklängen. Als wäre der zugehörige Trend eine Dekade nach „Pulp Fiction“ nicht restlos ausgebrannt. Es ist: ziemlich egal.

Hardcore und Punk- Rock’n’Roll. Auch hier hat Skandinavien einiges zu bieten. Wie andernorts auch splitten sich die Fans dieser Bands und Szenen allerdings in einem besonderen Spezialistentum auf: Ebba Grön [se] machten bereits in den späten 7oern schwedischsprachigen Anarcho-Punk; The Sods [dk], unter Insidern heute nicht weniger als eine Legende, setzten sich 1979 für Punk der 77er-Schule ein, da schlief man in Deutschland fast noch überall tief und fest den Schlaf der Gerechten und Deutschrockenden. Zwei Jahrzehnte später etablierte sich die Vorgängerband von The (International) Noise Conspiracy namens Refused [se] als feste Größe und maßgebliche Einflußgeber in Sachen Hardcore, der bei aller Wut stilistische Grenzen zu sprengen vermag. Millencolin [se], Gluecifer [no], die Backyard Babies sowie die zweite Band von deren Gitarrist Dregen, die Hellacopters [se], die es sogar zu einem Plattenvertrag beim amerikanischen Kultlabel Sub Pop brachten, sind allesamt feste Größen im internationalen Punkgeschäft. Ihnen eifern JR Ewing [no] nach und gehen den Schritt zurück, den einst die schwedischen Nachbarn und Crossover-Vögel Clawfmger übers Ziel hinaus schössen. Powersolo [dk] indes sitzen zwischen allen Stühlen, hissen die Rockabilly- und Psychobilly-Fahnen und durchmischen die gute, alte Punkrocker-Attitüde zuweilen mit Country-Klängen.

Neo-Rock. Die Zeit von Teenage Angst und politischem Bewußtsein, wie es noch von The (International) Noise Conspiracy medienwirksam verkörpert wird, scheint langsam vorüber zu sein. Was jedoch hängen bleibt, ist der Spaß vor allem schwedischer Bands an Uniformierung. Die Hives tragen gleiche Anzüge und Gamaschen, und auch Mando Diao sowie ihre kleinen Brüder von Sugarplum Fairy, die frech und clever Sixties-Beat-Bands bestehlen, kleiden und frisieren sich einheitlich. Mehr noch als nur „Sixties-affin“ sind auch die Caesars (alle se) und die Raveonettes [dkl. Musik, Image und Stil fallen bei diesen Bands so eindeutig aus, daß siesich als Vorzeigeobjekte für beispielhaftes Epigonentum in Popularmusik-Studiengängen empfehlen. Das gilt auch für überdrehte Glamrocker wie The Ark [se] oder die synthie-affinen Melody Club [se] und mit Abstrichen für weniger stylishe Indierocker ä la Figurines [dk], The Mopeds [dk] oder South Ambulance [se], Postrocker wie Salvatore [no] und späte Shoegazer wie Radio Dept. [se]. Überaus versiert orientiert man sich an Vorbildern aus den USA und Großbritannien. Solange das gut gemacht ist, funktioniert und Spaß macht, soll und wird sich dafür aber auch niemand schämen. Allerdings gibt es auch Neo-Rock-Kapellen , die es sich nicht ganz so leicht machen und einen wilden Stilmix dem sicheren Kopistentum vorziehen. Das kann fast überfordern wie im Fall von Don Juan Dracula [no], die 8os-Glam und Synthie-Rock zu einem seltsamen Hybrid verquirlen, einfach nur riesig Spaß machen wie bei Datarock [no], die in DJ-Attitüde mit ziemlich jedem Klischee der Popgeschichte spielen, oder in abgedrehtem Disco-Rock enden wie bei Quit Your Dayjob [se]. Aber es kann auch völlig in die Hose gehen wie bei Animal Alpha [no], einer gänzlich grauenhaften Mischung aus Within Temptation und den Dresden Dolls.

Schlagzeug-Pop. Während wir in Deutschland Schlager (und seine schlimmen Folgen im Verlauf der Neuen Deutschen Welle) am liebsten verleugnen, hat man sich in Skandinavien mit den Banalitäten des Pop längst bestens arrangiert und ihn im besten Fall weiterentwickelt – die Grenzen zum Pop sind fließend, und auch das ist offensichtlich kein Grund, sich zu schämen. Die Cardigans [se], die sich zu Beginn ihrer Karriere ganz ungeniert beim cremigen Easy-Listening-Sound der 6osbedienten, fügen ihren Popsongs inzwischen unterschwellig und sensibel jede Menge Wut und Schwermut bei, die in dieser Konzentration in der Musik ihrer großen Vorfahren ABBA noch undenkbar gewesen wäre (obwohl: Es gibt da Spuren im Spätwerk …). Verleugnen muß man seine musikalischen Wurzeln – so oder so – jedenfalls nicht. Man kann in Norwegen durchaus auch stolz auf die mittlerweile in die Jahre gekommenen A-Ha zurückblicken, die einst sogar die Popkönige von Duran Duran von der Spitze der Charts vertrieben und einem wie Coldplay-Chef Chris Martin die Tür zur Musik aufstießen, wie der heute noch gerne berichtet.

Heute p(l)oppt eine wie Annie [no] mit beinahe unverschämter Blauäugigkeit aus dem Land der Fjorde geradewegs in die Herzen der Pop-Hörer und schlägt ganz beiläufig eine Brücke zu den Elektronikern ihrer Heimat, während Nathalie Nordens [no] sowie Swan Lee [dk] gerade noch haarscharf am Chart-Mainstream vorbeibalancieren. Audrey [se], Under Byen [dk], Stina Nordenstam [se] und Mew [dk] führen Pop in sphärischere Gefilde, ganz wie es die Klischees von Polarkreis, Mittsommernacht und Seenland haben wollen. Dabei steht Schweden heute längst schon ebenso für das Klischee der Seifenblasenwelt vom Pop, der nur ganz oben in den Charts seinem Leben Sinn zu geben vermag: Ace Of Base, Roxette, die A*Teens und die albernen Rednex, deren Frontfrau Annika zu Hause sogar ein relativ spaßfreies Pop-Album aufnehmen und verkaufen konnte – all das kam und kommt aus Schweden. Und die Scham hält sich in Grenzen, in eben fließenden.

Und während dort in diesem Augenblick schon am nächsten Plan zur Eroberung internationaler Hitparaden geschraubt wird, nehmen sich Hunderte junge Indiepopper vor, es anders zu machen. Anders, aber auch schön, auch Pop. So bietet das schwedische Labrador-Label mit Bands wie Edson, The Legends, Laurel Music, Acid House Kings und Douglas Heart gleich dutzendweise hübsch plätschernde Pop-Perlen ohne viel Reibungspotenzial für Wohlfühlabende im Ikea-Sitzsack. Auch Bands wie Saybia [se], die in ihrer Heimat inzwischen als Superstars gehandelten Kent [se], die zauberhaften Concretes [se], die frischen Shout Out Louds [se], die obligatorischen Escobar [se], die niedlich-angerockten Lampshade [dk] sowie der große Selbermacher Tiger Lou [se] und die beschwingten Popium [no] bestechen durch solche Qualitäten. Minor Majority [no] hingegen könnten in der Plattensammlung sehrgut neben den Tindersticks stehen, auch die Weeping Willows [se] leiden auf allerhöchstem Niveau, während sich Isolation Years [se] gekonnt dem Folkpop verschrieben haben. Und dei ehemalige Frontmann der Band Monster, Anders Wendin a.k.a. Moneybrother [se], peppt seinen Pop mit einer Menge Soul und Ska auf und schafft so einen mit Leidenschaft besetzten Konsens-Sound, der in Deutschland sogar besser funktioniert als zuhause.

6 Bass Pall. Singer/Songwriter „l’d rather dance than talk with you“, sangen die Kings Of Convenience [no] und schlugen damit die Brücke zwischen Folk und Pop ebenso elegant, wie sie mit der Ansage „Quiet Is The New Loud“ der gesamten Neo-Folkszene einen Slogan gaben. Daß einer wie Thomas Hansen alias St. Thomas [no] spätestens mit seinem neuen, nicht mehr so zurückhaltend produzierten Album Resteuropa erobern kann, scheint alles andere als unmöglich. Jim Stärk [no] verkauft sich hingegen als eine Art skandinavischer Jack Johnson ohne Surfbrett. Surfen ist eben nicht dort oben:

„The cold swedish winter is right outside/ and I just want somebody to holdmeforthenight“, singt Jens Lekmann [se] und beweist, wie auch seine norwegischen Kollegen Ane Brun und Thomas Dybdahl, daß man sich für seine Gefühle nicht schämen braucht. Nicolai Dunger [se] trifft indes die Tristesse so meisterhaft, daß selbst Will Oldham schon mit ihm kollaborierte, und Hederos & Hellberg [se] schaffen an Gitarre und Piano einen Ausgleich zu den rockigen Klängen von Tsool, Martin Hederos‘ Hauptband. Ähnlich verhält es sich mit Kristofer Äström, der mit Hidden Truck seinen eigenen Gegenpol zu Fireside darstellt. Magnet [no] wagt sich wie Maria Solheim [no] wieder näher hin zum Pop, während Washington [no] es sich im alt.Country bequem machen. -»

Metal Manchem mag auf Anhieb beim Stichwort Skandinavien-Metal maßgeblich Gitarrengott Yngwie Malmsteen [se] einfallen. Vermutlich ist mancher dann aber auch nicht mehr ganz jung und hat mal eben zwei, drei komplette rockmusikalische Revolutionen verpaßt. Norwegen ist nicht weniger als die Wiege des Black Metal mit Vorreitern wie Satyricon, Dimmu Borgir und Burzum, deren Gründer Varg Vikernes aka Count Grishnackh nicht nur als Musiker, sondern auch als bekennender Rassist und Kirchenanzünder von sich reden machte und wegen Brandstiftung und Ritualmordes über 20 Jahre weggesperrt wurde. At The Gates [se] sowie Marduk, die selbsternannte „satanistischste und blasphemischste Band der Welt“, spielen zwar auch Black Metal, doch steht Schweden maßgeblich für Death und Doom Metal, dem Bands wie Bathory und Entombed zu einer wesentlich melodischeren Spielart verhalfen. Leider klingt durch Bands wie Unleashed auch hier ein unangenehm rechtsradikaler Unterton mit, der die Szene spaltet.

Elektonica Auch hier gibt es in Skandinavien viel zu entdecken. Dänemark etwa, bekannt für das Roskilde Festival, das sich in den letzten Jahren nicht zufällig stärker der Elektronik öffnete, bietet Acts wie Melk mit ihrem dem HipHop verpflichteten Elektronik-Entwurf, Thomas Knak, der vor allem als Opiate Listening Elektronik produziert, aber auch – zum Teil mit Partner Remmer -, als Dub Tractor, System, Future3 oder James Bong aktiv ist. In Schweden blüht vor allem die Techno- und House-Szene, deren geläufigste Vertreter Hakan Lidbo sowie Jesper und sein Cousin John Dahlbäck sein dürften. Es vergeht praktisch kein Monat, in dem nicht wenigstens eine 12 der Dahlbäcks auf die Welt losgelassen wird. Wer es etwas experimenteller mag, der greift zu Mikael Stavöstrands Elktronika, der oft im Duo mit Freund Skugge produziert. Oder aber Andreas Tilliander, der sich den assoziativen Clicks & Cuts verschrieben hat. Beim Nachbarn Norwegen hat sich mit Röyksopp inzwischen ein international bekannter Elektronik-Act etabliert. Weniger bekannt, aber nicht weniger interessant sind Ralph Myerz und seine Jack Herren Band mit ihrer elektronisch gefärbten Easy Listening oder Jaga Jazzist, deren Name Programm ist. Wer weiter kramen und suchen möchte, dem seien Namen wie Xploding Plastix, Palace of Pleasure, Flunk, Ugress, Frost, Steinklang oder BjörnTorskezugeflüstert, (joj) Jazz Mit neidvoller Bewunderung blickt die deutsche Jazzszene seit Jahrzehnten auf die Anerkennung, die skandinavische Jazzmusiker international genießen. In den 70er Jahren profitierte die nordeuropäische Szene von US-Stars wie Dexter Gordon, Ben Webster oder Don Cherry, die dem Clubsterben und dem Rassismus in den Staaten nach Dänemark und Schweden auswichen. Dennoch gab es lange Zeit wenig wichtige Jazzalben von skandinavischen Musikern – weil z.B. Weltklasse-Bassisten wie Niels-Henning 0rstedt-Pedersen oder Palle Mikkelborg zu beschäftigt damit waren, mit US-Stars zu touren und aufzunehmen. Dem Münchner Label ECM ist es zu verdanken, daß der skan-‚ dinaische Jazz mit Musikern wie dem Gitarristen Terje Rypdal (der mit seiner E-Gitarre gerne „Möwenschreie“ intonierte), dem Bassisten Arild Andersen und dem Saxophonisten Jan Garbarek ab den 70er Jahren durch Rückgriffe auf die heimische Folklore und moderne Klassik eine künstlerisch wie kommerziell höchst eigenständige Sprache fand. In den späten Neunziger Jahren ging von norwegischen Clubs und Diskotheken eine neue Bewegung junger Musiker wie Nils Petter Molvaer, Eivind Aarset oder dem Schweden Essbjörn Svensson aus, die sehr selbstverständlich und sehr erfolgreich Jazz mit modernen Ambient-Sounds und Club-Grooves verbinden. (cst)