Wilde Schwestern


Bringen es die gerade beliebten Frauen auch auf der Bühne? Ariadne von Schirach überzeugt sich selbst bei Lady Gaga und CocoRosie.

Wir sind zu spät“, sage ich, und Dos zuckt mit den Schultern: „Also Lady Gaga fängt doch mindestens zwei Stunden später an.“ Kurz darauf suchen wir unsere Sitze irgendwo ganz oben in der O2-World. Was für ein grässlicher Ort. Entmenschlichungsarchitektur. Die Show hat natürlich doch schon angefangen, und Lady Gaga nutzt die Pause zwischen den ersten Songs, um sich bei ihren Fans zu bedanken. Und wie nett es sei, dass sie sich alle ein Ticket gekauft haben. Ruhm als spirituelle Strategie: Dankbarkeit und Bescheidenheit. Lady Gaga redet sowieso dauernd von ihren Fans, das hat sie als erste wirklich begriffen: Ich bin eine von euch, auch ihr könnt es schaffen, ihr müsst nur an euch glauben, kleine Monster, ich liebe euch soooo sehr.

Die Menge johlt. Gaga zieht ihren schwarzen Fummel aus, etwas Bikiniartiges drunter, und besteigt ihr Klavier. „Brown Eyes“, ein mittelmäßiger Song, aber dieses dünne Mädchen, das auf den Tasten herumspielt mit ihren High Heels, nackt und zu allem entschlossen, das ist irgendwie rührend. Ich lächle in Dos‘ Richtung. Dessen Blick ist auf die Bühne gerichtet, da gibt es jetzt ein bisschen Sextanz. Lady Gaga räkelt sich, immer noch im Bikini und mit Kunstblut beschmiert, in einem Nebelmeer. In den riesigen Bildschirmen neben der Bühne sieht man ihr Gesicht in Nahaufnahme, schwarze Augen, roter Mund, ein Moment Aura, Schmerz, irgendetwas, und dann steht sie auf und fragt: Bin ich sexy? Yeah, auch ich klatsche mit; klar bist du sexy, Gaga. Obwohl du nicht tanzen kannst, und bisschen dünn bist du auch, aber deine Beats sind so fett und deine Semantik so total, du postmoderne Prinzessin. Und ich mag es, wie alles ganz einfach ist bei dir, Liebe und Ermutigung und gnadenlose Selbstdisziplin. The show must go on. Bisschen Bowie, bisschen Daft Punk, bisschen Madonna. Referenzgewitter im kulturellen Selbstbedienungsladen. Ganz am Schluss kommt dann das Fame-Monster auf die Bühne, kurzer Untergang, triumphale Rückkehr, und Bonustrack: „Bad Romance“ in der Silberkugel. Gaga, oh lala. Fette Show. Augen satt, Seele hungrig.

Schnitt. Eine Woche später. Die Leute sitzen entspannt auf dem Boden vor der Bühne im Admiralspalast, Sit-In-Atmosphäre, Federchen, Jäckchen und viele kleine Flechtfrisuren. Gleich werden CocoRosie ihr einziges Deutschlandkonzert geben und ihr neues Album Grey Oceans vorstellen. Als die Vorband spielt, treffe ich Dos, der sich etwas zu trinken gekauft hat, ganz oben auf der Balustrade, aber nach der Gaga-Geschichte bestehe ich darauf, näher ranzugehen. Dos ist skeptisch. Er mag Fluchtwege. „Die Tracks, die du mir vorgespielt hast, waren schon ein bisschen strange“, sagt er, als wir die Treppen wieder runtergehen.

„Ja, ja“, sage ich, „das ist ziemlich eigenartige Musik. Weird. Und sehr poetisch. Die beiden haben auch echt tolle Stimmen. Die eine klingt wie eine Opernsängerin, die andere wie eine Mischung aus Róisín Murphy und Sophie Rois.“ Dos nippt an seinem Weißwein, immer noch zweifelnd. Und das Konzert beginnt. Ein Karussell dreht sich auf der Leinwand hinter der Bühne, Sierra hüpft herein, ein weiter dunkelroter Mantel, ein Röckchen, darunter eine pinkfarbene Hose. Dazu goldene Schühchen. Schwester Bianca trägt langes, langes Haar, eine Piratenbluse und eine Art Zirkusdirektorenjacke, hinter ihnen ein Typ, der anfängt zu beatboxen, fantastisch, einer am Schlagzeug und einer am Klavier. Gleich das erste Lied erobert Dos, der heimlich mitwippt, und ich bin ganz hinweggefegt vom zweiten Song, da passiert etwas, da stellen die beiden sich genau dahin, wo seit Anbeginn der Zeiten alle Künstler stehen, Leben, Tod und schrille Sehnsucht, und dahinter verbrennt ein Stück Gaze langsam im Kerzenlicht. Und weiter geht es, Lied um Lied, Harfenklänge, Arienfetzen, die knarzige Stimme von Bianca, auf der Leinwand ein bunter Bilderreigen wie von Kinderhand: eine Transe mit Vampirzähnen, Regenbogen, Pferdeaugen und immer wieder: der graue Ozean. Die singen um ihr Leben, die beiden, gleichzeitig hochkonzentriert und federleicht. Der Beat rockt, ich hätte nie erwartet, dass die Musik so tanzbar ist, die Masse vor der Bühne bewegt sich, und neben mir kann einer seinen Kopf nicht still halten, und die Knie, die auch nicht. Später stehen wir draußen und rauchen, und Dos sucht nach einem Wort, die Musik zu beschreiben. Nach einer Weile sagt er: „Fairytale Folk.“ Ich nicke. Schönes feines Wort. Schöne wilde Schwestern. Bin bezaubert. Frauen im Popgeschäft. Verheißungsvoll. Die eine erzeugt Authentizität durch Referenz, geht von außen nach innen, im ständigen Dialog mit ihren Fans; die anderen bringen ihre Echtheit von innen nach außen, und scheren sich nicht um ihr Publikum. Wobei, stimmt nicht. Danach hat Sierra noch Autogramme gegeben. Und ich hab‘ mich angestellt. Obwohl ich da gar nicht so drauf stehe. Aber was soll ich machen: All those beautiful girls …

Ariadne von Schirach veröffentlichte 2007 den Bestseller „Der Tanz um die Lust“. Sie lebt als freie Autorin in Berlin und schreibt u.a. für Welt online eine wöchentliche Kolumne über Glück.

In der nächsten Ausgabe schreibt an dieser Stelle: Harriet Köhler