Gedanken zum Gegenwärtig*innen

X-Tina vs. Katy Perry: Warum ein Persona-Wechsel nicht immer von Erfolg gekrönt ist


In Folge 28 ihrer Kolumne erklärt Julia Friese den Begriff Flop-Era.

Drei Beobachtungen:

1. shapeshifting

Es gibt sie noch, die starre Vorstellung, irgendwann sei man angekommen. Selbstoptimiert am Ziel. Satt. Dann endlich sei man, wer man „schon immer“ hätte sein sollen, und habe von nun an die Aufgabe, dieses Sein zu erhalten. Formwandeln ist im Grunde nur Heranwachsenden erlaubt, sowie im Spiel: Rollenspiel, Computerspiel und Schauspiel. Seine Lust, jemand anders zu sein, soll man im Dunkel der Nacht oder einmal im Jahr hinter einer Maske im Karneval ausleben. Eine fluide Identität zu haben, gilt als queer. Also als gegen den Mainstream, anders, den Status quo störend.

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Nur Künstler:innen sind davon ausgeklammert. Sie dienen uns als Gefäße für unsere Fantasien, haben also beständig ihre Form zu ändern. Jedes Album soll als neue Ära lesbar sein. Musikstil und Visuals sollen im besten Falle weitestgehend anders, als die vorherige Version sein, ohne diese aber zu verleugnen. Ikonisch gelungene Beispiele wären: The-Tin-White-Duke-Bowie (STATION TO STATION, 1976) Eso Madonna (RAY OF LIGHT, 1998), Dirrty-X-Tina (STRIPPED, 2002) oder auch die wütende, politische, künstlerischere Beyoncé (LEMONADE, 2016).

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Einen unbeliebten Persona-Wechsel nennt man Flop-Era: Ein Album und dessen ästhetische Welt bleiben hinter dem Erfolg der Vorgänger zurück. Man denke zum Beispiel an die Nicht-mehr-Pin-up-Katy-Perry (WITNESS, 2017) und die Statt-Madonna-wäre-ich-doch-lieber Björk-Gaga (ART POP, 2013). Daran angelehnt sagen Pop-Konsument:innen: „Ich bin gerade in meiner Flop-Era“, wenn ihnen scheinbar nichts gelingt. Sie nehmen ihr Leben als Abfolge unter einem Vorzeichen stehender Abschnitte wahr. Als gäbe es einen Marketing-Plan im Hintergrund.

2. … und gegenwärtig war wie immer nur das wording

Taylor Swift nennt ihre 2023er Stadion-Tournee „Te Eras“-Tour, um mit 44 Songs aus zehn Alben aufzutreten. Auf Instagram schrieb sie dazu, sie sei in ihrer „Era’s era“ – also in ihrer Ären-Ära. Ein Umstand, der Tatsache geschuldet, dass sie in den vergangenen Jahren sehr viel Unterschiedliches veröffentlicht hat: pandemische Folk-Platten (FOLKLORE & EVERMORE, 2020), regulär glitzernde Pop-Platten (LOVER, 2019 & MIDNIGHTS, 2022) und zwecks Rechteeinnahmen Neu-aufgenommene-alte-Platten (FEARLESS & RED, 2021).

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Ein marketingtechnisch zu diverses Angebot, das die Storytellerin nun als Retrospektive präsentiert, ohne eben genau diesen alten Begriff, oder gar das noch endzeitlichere „Greatest Hits“ zu verwenden. Sie framed sich als eine Oscar-reife Every-Taylor-All-At-Once. Als eine noch im Werden befindliche Künstlerin, die eine kohärente Gegenwart aussetzen kann, um Summe-aller-Gestern zu sein.

3. mit allem verbunden im jetzt und hier

Die Wissenschaftlerin und Autorin Juliette Singh beschreibt in ihrem Essay „Kein Archiv wird Dich wiederherstellen“ (2023, Merve Verlag) die Überzeugung, dass der Mensch ein abgegrenztes, materielles Wesen sei, eine so moderne wie westliche, weiße eurozentrische Idee. All unsere affektiven Zustände seien – wie auch unsere Gedanken – nie ursprünglich unsere eigenen und unser gegenwärtiger Zustand immer ein Archiv aller vorangegangenen Zustände.

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Eine Einsicht, die einem schwimmend im westlichen Gewässern immer wieder neu scheint. Vielleicht ist die „Era’s Era“ also die aufrichtigste, ja, die natürlichste von allen: Die eigene Füllmenge unterliegt Schwankungen. Man ist nicht immer gleich. Aber immer im Werden. Ist immer Summe seiner Umgebung, immer Erfolg und Flop in einem, immer im Jetzt, und dabei immer irgendwie nostalgisch. Madonna geht im Sommer wieder auf Tour. Mit einer Retrospektive. Die „Eras“ heißen allerdings bei ihr „Decades“ – ihre Gegenwärtigkeit ist damit endgültig archiviert.

Diese Kolumne erschien zuerst in der Musikexpress-Ausgabe 06/2023.