Aerosmith


Jetzt geht's den Alten an den Kragen! Die Heavy-Rock-Veteranen bekommen Konkurrenz. Lange genug konnten sie sich auf ihren Lorbeeren ausruhen, aber jetzt kommen Aerosmith. Fünf Jahre lang haben sie hart gearbeitet, jetzt werden sie zur Supergroup befördert. "Rocks", ihr viertes Album, erhielt gerade in den Staaten eine Platinauflage. Nachdem Aerosmith im Fahrwasser der J. Geils Band dem Bostoner Publikum nach Jahren verklärter Musik-Kultur zu Beginn der 70er wieder ein Gefühl für unverdorbenen Rock vermittelten, spielten sie sich langsam, aber stetig an die Spitze. Mittlerweile füllen sie in den USA Riesenhallen. Jetzt ist das europäische Publikum dran. Ende Oktober kommen Aerosmith zu vier Gigs nach Deutschland.

Die Mädchen werden Augen machen, denn Sänger Steven Tyler sieht aus wie eine jüngere Ausgabe von Queen-Sänger Freddy Mercury und produziert sich auf der Bühne als Mini-Jagger. Seine Stimme hat sich im Laufe der Jahre in ein Organ verwandelt, das beinahe einem Robtrt Plant gehören könnte. Led Zeppelin ist in der Aerosmith-Musik sowieso allgegenwärtig.

Musik, die auf den Intellekt pfeift

Aerosmith ist nichts für feinfühlige Gemüter. Ihr fetzender Rock setzt auch die letzten Aggressionen frei. Das ist Musik, die auf den Intellekt pfeift. Musik für Leute, die im Konzert mit den Füßen stampfen und ihren Schädel in beängstigende Schwingungen versetzen wollen. Rock als Körpersprache; für ein oder zwei Stunden vergessen, was zuhause, in der Schule oder sonst irgendwo frustriert. So ein Aerosmith-Konzert bietet die besten Voraussetzungen dafür – die US-Jugend ist bereits auf den Geschmack gekommen. Nicht umsonst wurden schon vor „Rocks“ alle Aerosmith-LPs vergoldet.

Sänger Steven Tyler, Joe Perry (g), Tom Hamilton (b), Joey Dramer (dr) und Brad Whitford (g) mußten automatisch den Nerv ihres Publikums treffen. Rockmusik war für sie ganz einfach der Ausbruch aus den amerikanischen Gesellschaftsnormen. Highschool,

Colleges, Jobs – da fehlte ihnen einfach die richtige Motivation, um diese Tretmühle durchzustehen. Da setzten sie halt ihre Ablehnung in Musik um, nahmen ein paar magere Jahre in Kauf und tummeln sich jetzt unter den Großverkäufern des amerikanischen Schallplattenmarktes.

Die Jam Band

Steven Tyler ist erblich belastet. Er durfte schon als Halbwüchsiger an Wochenenden in der Band seines Vaters Schlagzeug spielen. Später kamen dann die üblichen. Amateurband-Zeiten. Zwischen-1 durch verdiente sich Steven, der im New Yorker Stadtteil Bronx aufgewachsen war, einige Dollar als Roadie bei den Yardbirds. 1970 verließ er New York und traf in Sunapee die Jam Band mit dem Gitarristen Joe Perry und dem Bassisten Tom Hamilton. Steve wollte sich nur noch auf den Gesang konzentrieren, und so wurde mit Joey Dramer ein neuer Schlagzeuger engagiert. Ebenfalls aus New York kam ein zweiter Gitarrist zur Jam Band: Brad Whitford. Er hatte es ein Jahr lang auf der Berkeley School Of Music ausgehalten, wo er Musiktheorie und Kompositionslehre studierte. Er meinte jedoch, daß er durchs den direkten Kontakt zum Publikum mehr lernen könne. Als Aerosmith gingen die Fünf dann nach Boston.

Nach drei Jahren hat’s gefunkt

Drei Jahre dauerte es jedoch, bis sie ihre erste LP aufnehmen konnten. Club-Gigs, bei denen sie alte Pop-Klamotten nachspielen mußten, hielten die Gruppe gerade über Wasser. Irgendwann durften sie dann mal im Vorprogramm von Edgar Winter und Humble Pie spielen. Das war in New York’s Academy Of Music. Das ist normalerweise ein Ereignis, an das viele Nachwuchsbands ihre Hoffnungen und Illusionen hängen: einmal im Vorprogramm einer Superband abräumen! Aber so sensationell lief es mit Aerosmith nicht. Zumindest aber hatte sie nach diesem Konzert der Ehrgeiz gepackt. Sie engagierten sich in Boston einen Managerund übten täglich. Als Steven und Joe genug Songs für eine LP zusammenhatten, nahmen sie Demos auf. Columbia Records nahm sie unter Vertrag. Als Techniker saß Adrian Barber im Studio, der bereits mit Cream, Vanilla Fudge, den Young Rascals und den Allmans zusammengearbeitet hatte. Das war 1973. Der Titel „Dream On“ wurde tatsächlich ein beachtlicher Single-Erfolg. Aerosmith trauten sich jetzt größere Tourneen zu, nahmen 1974 ihr zweites Album „Get Your Wings“ auf, ein Jahr später „Toys In The Attic“ und schafften 1976 ihren Platin-Seller „Rocks“.

Erfolgreiche Lückenbüßer

Also kein Grund, von einer Eintagsfliege zu sprechen, wenn in England und hierzulande plötzlich alles über Aerosmith redet. Denn hier scheint es sich ausnahmsweise nicht um ein Hype-Produkt zu handeln. Aerosmith ist keine Retortengruppe, deren Musikern man vor sechs Monaten irgendwelche Instrumente in die Hand drückte. Bei ihrem Rock mag man sich die Ohren zuhalten —aberer ist echt. Keiner der Fünf ist ein überragender Musiker, und Steven Tyler ist bestimmt nicht der King der Rock-Sänger. Aber Aerosmith haben eben das gewisse Etwas, das Leute anmacht, denen die Rollers zu kindisch, die alten Schwermetall-Bands zu abgeschafft und Gruppen mit irgendwelchen „Ansprüchen“ zu anstrengend sind. Und für einen Lückenbüßer sind Aerosmith schon recht gut im Geschäft.