Amazing


Knarren im Kofferraum, Heroin auf Halde. Aerosmith sind durch die Hölle gegangen. Heute trifft man sie im Fitness-Zentrum.

Die Räucherstäbchen verströmen den Duft von Sandelholz, sanft flackernde Kerzen erhellen den abgedunkelten Raum, bestickte Decken verzieren die ausladenden Sitzgelegenheiten – es fehlen eigentlich nur noch die Opiumpfeifen. Aber wir sind nicht in irgendeiner Drogenhöhle irgendwo im goldenen Dreieck, sondern mitten im winterlichen Boston, der Heimat von Aerosmith. Die hippiemäßig gestylte Suite des sündhaft teuren „Four Seasons“ dient als kurzfristiges Hauptquartier des langgedienten Quintetts. Steven Tyler (52) kommt etwas hüftsteif durch die Tür, bevor er seinen beängstigend dürren Körper auf die Couch fallen lässt. „Ich habe mir vor fünf Jahren im Sommer einen Rückenmuskel gezerrt als ich diese gigantische Krähenfeder aufhob.“ Wie bitte? „Zuhause habe ich eine riesige Krähenfeder aus Eisen als Rasen-Deko. Mein schräger Geschmack ist ja bekannt“, grinst er süffisant. „Beim letzten Konzert in München bin ich dann zu diesem Medizinmann der Fußballer gegangen, Müller-Wohlfahrt. Der hat mir irgendein Wundermittel gespritzt. Es hat fünf Jahre bestens gewirkt, bis heute Morgen.“ Tiefe Furchen mögen das Gesicht des Mannes mit den Schlauchbootlippen durchziehen, seine verschmitzten Blicke und das schlagfertige Mundwerk freilich sind so jungenhaft wie eh und je. Seine vorderen Haarsträhnen sind blond gefärbt, er trägt ein aufgeknöpftes braunes Hemd, das den Blick auf den durchtrainierten Bauch bis zum Nabel freigibt. Neben ihm räkelt sich Joe Perry (50), dessen Tiefkühl-Charme die Fans seit dreißig Jahren fasziniert. Ein um den Kopf geschlungener Schal bändigt seine schwarze, mittellange Mähne, schwarz sind auch Hemd, Jackett und Lederhose. Alter ist für die beiden Senior-Rocker kein Thema, behaupten sie jedenfalls, sie ziehen es vor, von „Erfahrung“ zu reden. „Das ist doch nur eine Jahreszahl“, spielt Tyler die Angelegenheit runter, „ich gehe jeden Morgen eine Stunde in den Fitnessraum. Ich spüre das Alter nicht, wenn ich mir nicht gerade den Rückenmuskel zerre. An meiner Stimme merke ich jedenfalls keinerlei Veränderung. Meine Frau findet mein Verhalten gelegentlich ein wenig merkwürdig, ich sei besserwisserisch und würde Leuten Beispiele geben, die sie nicht hören wollen, weil sie wissen, dass ich Recht habe“, zwinkert er.

Soeben haben Aerosmith einen neuen Höhepunkt ihrer an Gipfeln (und Tälern) so reichen Karriere erklommen. Am 28. Januar spielten sie vor 800 Millionen Fernsehzuschauern in der Halbzeit der Superbowl, des Football-Endspiels zwischen den New York Giants und den Baltimore Ravens in Tampa, Florida. Das wichtigste amerikanische TVSpektakel des Jahres bot den Bostonians die perfekte Gelegenheit zur Selbstdarstellung, sie ließen drei Songs vom Stapel, darunter auch ihre legendäre Hymne „WalkThis Way“ von 1975, mit der sie 1986 im Team mit Run DMC den ersten Rock-Rap-Hit aller Zeiten feiern konnten. Dieses Mal fielen Popstars wie Britney Spears, N’Sync, Mary J. Büge und Nelly in den markigen Text ein. „Die Leute fragen immer, was gibt es nach drei lahrzehnten im Geschäft noch an Herausforderungen? Die Superbowl stand nicht gerade ganz oben auf der Liste, aber wir sagten: ,Lasst uns drüber reden.‘ Es war pure Abenteuerlust, das hätte auch total in die Hose gehen können“, beschreibt Lebende Legenden

Peny das Risiko des Unternehmens. „Wir hätten uns blamieren können. Aber das Ergebnis war super-gut! Es war ein Glücksspiel. Alle haben „Walk This Way‘ mitgesungen, das zeigt doch, was für ein großartiger Song das ist.“ Ihr Auftritt bei der Superbowl zeigt jedoch mehr als die immer noch überragende Popularität von „Amerikas Hausband“, er steht für einen Aufbruch zu neuen Ufern. Das bestätigt auch das neue Album „Just Push Play“. Der Löwenanteil der Titel sind Rock-Popnummern im Stil ihrer neuen Single „Jaded“. In mittlerem Tempo gehalten mit gebremstem Schlagzeug und gedämpften Gitarren, Elektro-Beats, Streichern und voluminösen Zuckerwatte-Refrains. „Wir wollen im Spiel bleiben“, sagt Perry trocken und meint damit nichts Geringeres als die Champions League des Pop. „Unser letztes Album ‚Nine Lives‘ war ein Rockalbum. Keiner der Kracher wurde im Radio gespielt.“ Selbst wenn sie die Rockfans verprellen sollten, wollen Aerosmith wieder im alles entscheidenden Rundfunk präsent sein, das macht Tyler deutlich: „Wenn du als Band nicht im Radio gespielt wirst, kannst du gleich in den Verein christlicher junger Männer eintreten.“

Perry lieht Aerosmith in der Tradition der Yardbirds, die ebenfalls Rock und Pop kombinierten. „Wir lieben Rage Against The Machine, die Stone Temple Pilots, die Chemical Brothers und The Prodigy. Aber niemand macht das, was wir machen. Das gibt Aerosmith die Grundlage für die Existenz.“ Viel lieber als an „Nine Lives“ erinnern sich die beiden Veteranen an „Get A Grip , das sich weltweit in zwölf Millionen Kopien verkaufte und das mit Abstand erfolgreichste Album der Luftschmiede wurde. Es markierte den Gipfel eines glanzvollen Comebacks, nachdem die unbeugsamen Haudegen Mitte der Siebziger bereits die größte Rockband der USA waren – und dann in ein tiefes Loch fielen. Musikalisch boten sie von Anfang an einen Mix: Zum einen waren sie fasziniert von den Bands der englischen Supergitarristen Jeff Beck, Eric Clapton und Jimmy Page. Zum anderen liebten sie Otis Redding, Sly Stone und vor allem James Brown. Heraus kam eine Kombination aus Rock, Blues und Soul, getragen von den Aero-typischen Torkel-Rhythmen, befeuert von Perrys sengenden Soli und

Tylers spitzen Schreien mitsamt seiner wenig zweideutigen Lyrik. Dieser Sound führte Aerosmith in den 70ern an die Spitze der „Blauen Armee“. Das waren Scharen meist männlicher Fans, die bevorzugt Jeans trugen: „Wenn du von der Bühne ins Publikum geschaut hast, war alles blau“, erinnert sich Perry.

Im Gegensatz zu den britischen Mega-Bands wie den Rolling Stones, The Who oder Led Zeppelin, die ihre ekstatischen Shows nur in den Metropolen Amerikas abzogen, spielten Aerosmith sich auch in Provinzstaaten wie Idaho, Iowa und Illinois die Finger wund. Es war nicht zuletzt ihr unermüdlicher Fleiß, der sie an die Spitze der Beliebtheitsskala führte. Das waren die Zeiten der „Geldscheinbündel, an denen ein Pferd erstickt wäre“ (Perry), in denen die Band im Privat-Jet reiste, jedes Mitglied gleich mehrere sündhaft teure Sportwagen besaß und Aerosmith bis zu 350.000 Fans anlockten, wie etwa beim Cailfornia Jam II von 1978. Es waren aber auch die Zeiten der gefürchteten Tobsuchtsanfälle (besonders von Joe und Steven), die Zeiten des hohen Groupie-Verbrauchs und noch höheren Drogenkonsums. Damals lagen hinter der Bühne für Tyler stets zwei Bahnen Kokain bereit. Wenn ein Roadie im Dunkeln irrtümlich seine Taschenlampe auf die wartende Droge stellte, wurde er auf der Stelle gefeuert. Putschte ihn das Koks zu sehr auf, hatte Steven in den zahlreichen Schals am Mikroständer Taschen eingenäht, in denen er Beruhigungsmittel verborgen hielt. Auch für Perry stand stets ein Gläschen mit zerstäubten „kolumbianischen Marschierpulver“ samt Strohhalm bereit, um sich zwischen den Songs nasal zu „erfrischen“.

All diese, oftmals unglaublichen Geschichten sind in der Aerosmith-Autobiografie „Walk This Way (Aerosmith mit Stephen Davis; Virgin Books) festgehalten, einem Rückblick von entwaffnender Ehrlichkeit. Neben den Mitgliedern der Band und ihren Frauen kommen auch Freunde, Manager, Gespielinnen und Roadies zu Wort. So berichtet ihr Bühnensound-Mixer Dick „Rabbit“ Hansen, am Schlagzeug habe stets eine Flasche lack Daniels sowie eine Pulle höchstprozentiger weißer Rum gestanden, „ein totaler Hirn-Ficker. Steven hatte seinen Spaß daran, einen Schluck aus dieser Flasche zu nehmen und sie dann an Fans weiter zu reichen. Fünf Minuten später mussten sich die Anhänger übergeben, weil sie dieses Feuerwasser nicht gewohnt waren. Es gibt nichts Lustigeres als eine Reihe kotzender Fans.“ Rabbit berichtet ebenfalls, dass die Musiker zu dieser Zeit ihre Lust auf Groupies verloren, „sie interessierten sich mehr für Drogen als für die Mädchen, die ihnen im Bus einen blasen wollten. So bekamen wir die Damen. Ein Tag, an dem ich nicht mindestens zwei Frauen hatte, war selten.“ Ab 1977 wurden die Drogen auch wichtiger als der Rock’n’Roll. Tyler und Perry nahmen nun Heroin, das ihnen ein befreundeter Rockmusiker aus New York anlieferte. Für die Aufnahmen zu „Draw The Line“ mieteten sich die Waffen-Fanatiker ein ehemaliges Kloster, knallten sich die Birne zu und machten Schießübungen. Am Ende fuhr Trommler loey Kramer seinen Ferrari zu Schrott, während Perry seine Corvette zerschredderte, indem er mit 120 km/h in die Leitplanken eines Highways raste. Der ungebremste Hedonismus wirkte sich zwar sehr negativ auf ihre Songs aus, aber noch hielten die Piloten ihr Luftschiff auf Kurs. Die Drogensucht der Musiker erforderte indes Vorsichtsmaßnahmen. Um Katastrofen zu vermeiden, gab es für die Road-Crew die 24-Stunden-Regel. Tauchte ein Bandmitglied 24 Stunden lang nicht auf, musste seine Hoteltür aufgebrochen werden. Längst hatten Tyler und Peny ihren Spitznamen weg, sie galten als die „Toxic Twins“. Manche Nacht musste Steven von einem Roadie huckepack auf die Bühne geschleppt werden, „von da an war er auf einem Autopiloten, und alles lief wie von selbst“. 1979 waren die super-reichen Junkies dermaßen kaputt und aufgekratzt, dass es nach einem Streit der Frauen von Joe Perry und Bassist Tom Hamilton zur Trennung kam. Der geniale Leadgitarrist startete sein Joe Perry Project, Rhythmusgitarrist Brad Whitford gründete seine Combo Whitford/St. Holmes. Von einem Neuanfang aber konnte keine Rede sein, sämtliche Rocker waren weiter fest im Griff der Rauschmittel.

Folglich hatte Peny zwei Jahre später seinen Plattenvertrag verloren, war völlig pleite und musste, mangels Wohnung, auf der Couch seines Anwalts schlafen. Den Kollegen von Aerosmith (jetzt mit zwei neuen Gitarristen) ging es kaum besser, die Millionen-Gagen waren buchstäblich verpulvert und durch die Nase gezogen. Sie waren weder in der Lage, Konzerte zu geben noch Platten aufzunehmen. Perrys neuer Manager Tim Collins versöhnte die Streithähne schließlich und sorgte dafür, dass sie zum Entgiften in Kliniken gingen. Es folgten zwei Jahre voller Entziehungskuren, Rückfälle und Rechtsstreitigkeiten. 1986 schließlich waren Areosmith dean und bereit, zum zweiten Mal die Welt zu erobern. Jedes ihrer folgenden Alben wurde erfolgreicher als der Vorgänger, bis sie 1993 mit „Get A Grip“ ein neues Hoch erklommen hatten. Die Band konnte gleich eine ganze Reihe von Hits feiern, „Cryin'“, „Amazing“ und „Crazy“ wurden nicht nur in Amerika zu Ohrwürmern. Aerosmith traten wieder in den größten Hallen auf und nahmen allein im Jahr ’94 zwanzig Millionen Dollar ein. Sie hatten eines der atemberaubendsten Comebacks der Rockgeschichte hingelegt.

Stets war es Tylers erklärtes Ziel, unsterblich zu werden. Als Kind hatte Steven schon seinen Namen in Stein gemeißelt, um so der Nachwelt erhalten zu bleiben. Sieht er sich heute als unsterblich? Sind Aerosmith größer als seine Idole, die Rolling Stones? „Irgend jemand hat mir neulich erzählt, wir hätten sie überholt. Ich seh das nicht so. Ihre Musik ist ein Stück Zeitgeschichte von ’61 bis ’99. Ich glaube, unsere neuen Songs sind echte Knaller, aber es geht nicht ums Überholen, die Beatles und die Stones waren so ein wichtiger Teil unserer Karriere. Irgendwann, irgendwo würde ich immer noch gerne ein Konzert mit ihnen spielen.“ Werden es Aerosmith künftig, angesichts des fortgeschrittenen Alters, ruhiger angehen lassen? Etwa so wie Eric Clapton, der entspannte Blues-Alben aufnimmt? Tyler überlegt kurz: „Das ist schon angsteinflößend. Anderseits ist es beruhigend zu wissen, dass wir so etwas machen könnten.“ Für Perry dagegen kommt ein Kürzertreten nicht in Frage: „Ich wünschte, Clapton wäre noch der Alte. Alle drei Jahre spielt er ein gutes Solo. Ich liebe Clapton, Mann, er hat mich sehr beeinflusst. Ich höre immer noch seine alten Bluesbreakers-Platten, seine Soli lassen die Zeit still stehen. Aber ich hoffe ich werde nicht wie er, wenn ich sein Alter erreiche!“