Architekt der Träume


Peter Gabriel ist ein Wahnsinniger. Nahezu rund um die Uhr werkelt er auf seinen Traum-Baustellen für die Welt von Morgen: High Tech-Studio Vergnügungspark, Label mit Welt-Musik, Computerprogramme, Benefiz-Festivals, Menschenrechte - nur sein Privatleben liegt In Trümmern . Der workaholic führte ME/ Sounds-Mitarbeiter Manfred Gillig durch seine neue Ideen-Fabrik.

Die Gegend um die Stadt Bath könnte aus einem Reiseführer zu den Zentren englischer Country-Idylle stammen: Mit seinen viktorianischen Bürgerhäusern und penibel gepflegten Parkanlagen liegt der Kurort rund 180 Kilometer westlich von London im lieblichen Tal des Flusses Avon. Grüne Weiden, von sauber geschnittenen Hecken umsäumt und sanft gerundete Hügel mit üppigem Baumbestand prägen diese Landschaft.

Rund zehn Kilometer außerhalb von Bath, an der Straße nach Chippenham, liegt das Dorf Box. Hier hat sich Peter Gabriel einen langgehegten Traum erfüllt: Er richtete nach allen Regeln der Tonmeisterkunst ein Studio ein, das die ländliche Verschlafenheit der englischen Countryside mit einer gehörigen Portion HighTech veredelt. Zu diesem Zweck krempelte er die alte Mühle von Box, ein massiges Bauwerk aus den Gründerjahren des britischen Maschinenzeitalters, gründlich um. „Drei Jahre haben wir gebraucht, um diese Mühle umzubauen“, rekapituliert der stolze Besitzer. Jetzt ist das Studio weitgehend fertig – und Peter Gabriel macht den gleichen Eindruck.

Die Ringe unter seinen Augen lassen darauf schließen, daß er schon seit Tagen Überstunden schiebt, und die Art und Weise, wie er jeden Satz Wort für Wort mühsam zimmert, deutet ebenfalls daraufhin, daß er die vergangenen 24 Stunden wohl kaum auf der Matratze verbracht hat.

Wie fühlst du dich heute, Peter?

„Müde, sehr, sehr müde.“ Er sagt das mit Überzeugung: stockend, begleitet von einem kurzen Lachen, das schüchtern und ein wenig verdrießlich wirkt. “ Wir hatten gestern nacht noch ein langes Meeting wegen des Experience Parks.“

Und schon sind wir mitten drin in Peter Gabriels derzeitigem Lieblingsthema. Dabei handelt es sich nicht etwa um das neue Weltmusik-Label Real World, das Gabriel am 10. Mai in Paris den Medien vorstellte. Nein, der Meister meint ein Projekt, das ihn seit Jahren nicht mehr losläßt: den „Real World Experience Park“, der dem Real-World-Label zumindest den Namen gab.

„Ich versuche Maler, Musiker, Filmemacher, Architekten und Archäologen zusammenzubringen, damit sie eine Art Disneyland mit einer völlig anderen Ästhetik entwerfen, einen Erlebnispark der Schönen Künste. Ich konnte schon Brian Eno, Laurie Anderson und Terri Gilliam für diese Idee begeistern. Die Koordination dieses Projekts kostet mich aber eine Menge Zeit. Vor allem müssen wir einen geeigneten Standort finden, wo auch die Finanzierung gesichert ist.“

Schon vor drei Jahren propagierte Gabriel seinen Experience Park. Damals träumte er davon, ihn in Sidney zu installieren. Der Plan zerschlug sich. Doch jetzt sieht er eine Alternative, die Wasser auf seine Mühle verspricht. “ Wir verhandeln mit dem Bürgermeister von Barcelona, ob der Park nicht eine ideale Ergänzung für die nächsten Olympischen Spiele wäre. Ende Mai haben wir in Barcelona eine Präsentation, auf der wir unser Konzept vorstellen.“

Kein Wunder, daß der Förderer der Schönen Künste mächtig unter Streß steht. Seine Erklärungen hören sich noch immer ziemlich stockend an, und bisweilen verliert er auch den Faden. Dann schaut er ganz zerstreut, lächelt verlegen und fragt: „Jetzt bin ich rausgekommen. Was wollte ich gerade sagen? Ach ja. Es war meine Idee, ich habe dann alle möglichen Leute dafür zu begeistern versucht und trieb auch potente Geldgeber auf. Aber die Kosten wachsen uns über den Kopf, und deshalb müssen wir überlegen, wo wir vielleicht noch sparen können.“

Keine Kosten scheute der 39jährige Sohn aus gutem Hause für sein neues Studio. „Ich habe praktisch alles, was ich mit meinem letzten Album so verdiente, hier wieder investiert.“ Das waren gut drei Millionen Pfund, rund zehn Millionen Mark. Über weitere zwei Millionen Pfund mußte Gabriel einen Kredit aufnehmen. Dafür macht das „Box Mill Studio“ schon von außen was her. Die Westseite des Gebäudekomplexes entspricht noch weitgehend dem Aussehen der früheren Getreidemühle. Auf der anderen Seite hingegen wuchert eine Studiofront aus futuristisch anmutenden Glasflächen.

Davor bildet der ehemalige Mühlbach einen kleinen Stausee. Er fließt noch immer unter der Mühle hindurch, wie ein Rundgang durchs Studio verrät: In einem der drei Aufnahmeräume besteht der Boden aus Glasscheiben, die den Blick auf das darunter liegende Kanalgewölbe freigeben, durch das hin und wieder eine Ente paddelt.

„So schön das ist – es hat die Kosten einheimlich in die Höhe getrieben. Wir hatten eine Menge Wasser unter dem Fundament. Dafür lernte ich in den vergangenen drei Jahren alles über Architektur.“ Riesige Rohre aus Keramik und Beton durchziehen die Räume und erinnern bisweilen an bizarr angeordnete griechische Säulen. Das ist die Heizung. Denn Gabriel hält nichts von den üblichen Air-Condition-Leitungen aus Metall, weil sie angeblich den Anteil der negativen Ionen in der Luft anreichern und so an den Kräften zehren. Holz und andere natürliche Werkstoffe prägen den Charakter der Studios, die mit den feinsten und teuersten Geräten, vom digitalen Mischpult bis zu mehreren Computer-Terminals mit entsprechender Software, ausgestattet sind. Rund 15 Mitarbeiter beschäftigt Gabriel hier.

„Ich habe mir hier mein Traumstudio gebaut, in dem sich die Schönen Künste und die Technologie treffen“, resümiert er. „Auf jeden Fall ist es ein großes Lotteriespiel, denn wir erproben – anders als üblich – ein Konzept, in dem der Künstler stärker am Aufnahmeprozeß beteiligt ist.“

Auch das kleine Nebengebäude, in dem Gabriel zur Zeit lebt, stellt sich dem Besucher als überaus gelungene Altbau-Sanierung dar. Eine steile Treppe führt unter den Dachboden, wo der Saab-Fahrer („mit diesem Wagen falle ich nicht so auf) ein Penthouse eingerichtet hat. Das strahlende Sonnenlicht des britischen Frühlings fällt durch große Glasfenster aufs rustikale Gebälk. Die andere Hälfte seines Refugiums hegt ein paar Treppen höher und ist geschmückt mit einem großflächigen bunten Gemälde. „Hier logiere ich, seitdem ich mich von meiner Frau getrennt habe, und bis mein Häuschen hier in der Nähe renoviert ist, das ich neulich gekauft habe. Danach wird dieses Appartemtent den Musikern zur Verfügung stehen, die im Studio arbeiten.“

Die 18 Jahre, in denen Gabriel mit seiner Frau Jill, einer Jugendliebe aus bestem britischem Diplomatenhaus, zusammen war, verliefen alles andere als harmonisch. Es gab diverse Affären und Skandälchen, viele schmerzhafte Mißverständnisse zwischen zwei Menschen, die sich zwar lieben, die aber trotzdem nicht miteinander klarkommen. Jetzt versuchen beide, einen endgültigen

Schlußstrich zu ziehen: Gabriel ist schon seit geraumer Zeit mit der amerikanischen Schauspielerin Rosanna Arquette liiert. „Mein Privatleben war immer ziemlich konfus“, kommentiert er und fährt sich mit abwesendem Blick durch die Haartolle. „Aber ich sehe meine beiden Töchter weiterhin so oft wie möglich.“

Könnte es sein, daß er privaten Problemen gerne aus dem Weg geht, indem er sich in die Arbeit stürzt? Über eine Antwort grübelt er nicht lange nach: „Sicher ist jedenfalls, daß ich mich in meiner Arbeit besser zurechtfinde als im Privatleben.“

Gabriel tanzt seit Jahren auf vielen Hochzeiten. Er engagiert sich noch immer bei WOMAD, dem jährlichen Weltmusik-Festival „World Of Music Art And Dance“, das er 1980 ins Leben rief (siehe auch S. 72 in dieser Ausgabe). Er geht für Amnesty International auf Tournee und tritt für die Umweltschutzorganisation Greenpeace auf. Nebenbei gründet er noch das Plattenlabel Real World und entwirft einen futuristischen Vergnügungspark. Es sieht so aus, als brauche er dieses geordnete Chaos, um sein Seelenleben zu stabilisieren. Aber wird ihm das nicht doch zu viel Streß? „Manchmal schon. Doch ich stecke meine Ziele immer zu hoch – nach dem Motto, Versuch zu kriegen, was du kriegen kannst, aber akzeptiere dann auch, was du tatsächlich kriegst‘.“

Hochgesteckte Ziele verfolgte Gabriel in der Tat schon mit dem ersten WOMAD-Festival, das er zwei Jahre lang vorbereitete und das im Sommer 1982 im Städtchen Shepton Mallet über die Bühne ging. Daß der Kontakt zwischen Gabriel und den WOMAD-Leuten nicht abreißt, dafür sorgt schon die räumliche Nähe: In Rufweite auf der anderen Seite des Mühlbachs stehen die Container-Pavillons der WOMAD-Organisation.

„WOMAD trägt auch die Verantwortung für das Real-World-Label. Ich habe lediglich Geld darin investiert und bin so etwas wie der künstlerische Leiter. Im neuen Studio will ich auf jeden Fall viel Dritte-Welt-Musik machen. Wir gehen das ganz bescheiden und mit niedrigem Budget an, so daß wir schon aus dem Schneider sind, wenn wir von jedem Album nur 10 000 Stück verkaufen. Meist werden wir dabei die technischen Möglichkeiten nicht ausschöpfen, sondern die Musiker live im Studio spielen lassen.“

Für die Dritte Welt engagiert sich Gabriel nicht erst, seitdem er Nusrat Fateh Ali Khan oder die anderen Interpreten der Real-World-Platten kennt. Seit er 1977 vom Tod des südafrikanischen Freiheitskämpfers Steve Biko hörte, beschäftigt sich der Workaholic immer intensiver mit anderen Musikkulturen und den ernsten Problemen der armen Länder.

„Die Menschen der Welt mit Hilfe der Musik zusammenbringen – eine solche Definition meiner Arbeit akzeptiere ich. Denn Musik bietet einen großartigen Zugang zu anderen Kulturen, und dafür mußt du nicht einmal fremde Sprachen verstehen.“

Sein Blick schweift durch den Raum, während er langsam und bedächtig doziert: „Unsere Idee war es, Bilder zusammen mit dem Sound zu speichern. Zu diesem Zweck wollten wir eine piktographische Sprache für den Apple-Macintosh entwickeln. Ein variables Haussymbol sollte den Sound verkörpern, wobei die Außenseite des Hauses die äußeren Parameter darstellen könnte, während das Innere des Hauses den Charakter des Sounds beschreiben würde. Aber ich fürchte, ich schweife jetzt wirklich ab.“

Mit einem Ruck verstummt er.

Er kümmert sich einfach um zu viele Projekte gleichzeitig. Da drängt sich die Frage auf, ob nicht manches zu kurz kommt. Das Album SO ist bereits vier Jahre alt, eine neue Platte mit Songs wäre längst fällig. Zwar veröffentlichte Gabriel soeben auf dem Real-World-Label mit PASSION ein Doppelalbum, das die Musik zu Martin Scorceses Film „Die letzte Versuchung Christi“ enthält und seine Vorliebe für Weltmusik dokumentiert – ein legitimer Nachfolger für SO steht aber noch aus.

Er seufzt und wirkt plötzlich wieder sehr müde: „Ich werde noch in diesem Jahr ernsthaft mit diesem Album anfangen. Mit dem neuen Label, dem Experience-Park und dem Soundtrack-Album war ich bis jetzt einfach zu sehr eingespannt.“

Draußen rattert ein Güterzug vorbei; das Telefon klingelt schon wieder, und der Gastgeber zuckt entschuldigend mit den Schultern, während er zum Bett schlurft, um den Hörer abzunehmen.